Die Prophetin
Dunkelheit fliehen, als sie unter der Ampel einen großen Hebel mit der Aufschrift: ›Lichtschranke‹ bemerkte. Sie schob den Hebel, der sich leicht bewegte, in die Stellung ›A‹, und eine Warnlampe begann zu blinken. Die Ampel wechselte auf Rot. Sie trat durch das Tor und sah mit angehaltenem Atem zu, wie die Schleuse den Tunnel verschloß.
Dann stand sie in völliger Dunkelheit.
Catherine mußte gegen ihre aufsteigende Panik ankämpfen. Die Beine versagten ihr den Dienst. Sie sank auf die Knie. Sobald ihr Atem wieder etwas ruhiger ging, betastete sie den Boden. Der Beton war feucht und glitschig. Nur das kalte Eisen der Schienen war trocken. Als sie sich aufrichtete und vorsichtig einen Schritt zur Seite machte und dann noch einen, stieß sie gegen die Wand. Von der Decke tropfte Wasser.
Der Killer würde nicht lange zögern und das Schleusentor wieder öffnen. So schrecklich die Dunkelheit auch war, sie bot ihr im Augenblick den einzigen Schutz. Trotzdem mußte sie weiter. Er durfte sie auf keinen Fall direkt hinter der Schleuse einholen. Als Catherine zum dritten Mal auf dem glitschigen Boden ausrutschte und beinahe stürzte, kamen ihr die Tränen, und sie lehnte sich mit unterdrücktem Schluchzen an die Wand. Falls der Killer sie nicht fand und umbrachte, würde sie ertrinken, wenn der Tunnel geflutet wurde und Atlantis wieder einmal im Wasser versank. Sollte sie aufgeben? Mit der Insel würden auch die Schriftrollen untergehen und Sabinas Geheimnis… Garibaldi!
Sie konzentrierte sich auf ihn und wurde ruhiger. Bestimmt war ihm nicht entgangen, daß sie aus der Halle fliehen mußte. Sie holte tief Luft und empfand wieder etwas Zuversicht. Sie wußte, er würde sie nicht im Stich lassen. Entschlossen eilte sie weiter. Es muß einen Ausweg geben!
Catherine stieß einen durchdringenden Schrei aus und stürzte ins Leere. Die Wand hörte plötzlich auf, und sie fiel der Länge nach auf den Boden. Instinktiv hielt sie schützend die freie Hand vor den Kopf. Als sie sich aufrichtete, sah sie in einiger Entfernung schwaches Tageslicht. Sie stand auf und rannte weiter. Der Gang endete in einem Schacht, der senkrecht nach oben führte Catherine entdeckte jedoch Eisensprossen.
Ohne zu zögern kletterte sie hinauf. Dabei war ihr die blaue Tasche im Weg. Als sie sie auf den Rücken schieben wollte, hätte sie fast das Gleichgewicht verloren. Sie biß die Zähne zusammen und kletterte weiter.
Das Sonnenlicht war so grell, daß sie die Augen schließen mußte. Aber die frische Luft war wie eine Erlö-
sung. Sie stand im Freien. Ein dumpfes Grollen ließ sie zusammenzucken. Erschrocken sah sie sich um. Sie befand sich in einer Stadt mit bizarren Säulen, Tempeln, Statuen und den gespenstischen Fassaden unwirklicher Häuser. Am anderen Ende der Insel erhob sich ein niedriger Hügel, dessen Gipfel in diesem Augenblick auseinanderbrach und sich in einen feuerspeienden Vulkan verwandelte. Atlantis…
Catherine hatte das Spektakel bereits mehrmals vom Hotelzimmer aus gesehen. Aber hier auf der Insel schien alles anders zu sein. Sie konnte sich nicht orientieren und wußte nur: Am Ende versank Atlantis in den Fluten.
Unschlüssig stand sie neben dem Schacht. Aus den Lautsprechern des Hotels hallte die ›Atlantis-Symphonie‹ herüber, mit der das Schauspiel des Untergangs eingeleitet wurde. Am liebsten wäre sie wieder hinuntergestiegen. Als sie jedoch in dem dunklen Loch das Licht einer Taschenlampe sah, lief sie los. Der Killer!
Die Phantomstadt hatte keine richtigen Straßen und Plätze. Sie war nur eine große Kulisse mit Winden und mechanischen Greifarmen, die wie ein gigantisches Uhrwerk langsam in Bewegung gerieten. Schreie, Exp-losionen und Sturmgeräusche untermalten das Inferno. Wie von Furien gejagt rannte, stolperte und kletterte Catherine über die seltsamsten Hindernisse. Sie näherte sich dem großen weißen Tempel in der Mitte der Insel. Am Fuß der breiten Marmortreppe bleib sie atemlos stehen und drehte sich um. Als sie den Killer mit der Narbe in der Nähe des Schachts entdeckte, fing die Erde an zu beben. Eine Fassade stürzte ein. Der Mann wich im letzten Moment aus. Aber auch die hohe Säule vor dem Tempel mit der vergoldeten Statue einer Göttin schwankte.
Catherine kniff die Augen zusammen. Sie wußte, die Säule würde erst gegen Ende des Schauspiels auf die Stufen stürzen. Da begann das Wasser die Insel zu überfluten. Sie rannte seitlich am Tempel vorbei und den Hang an der anderen
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