Die Prophetin
Schriftrolle ausgebreitet lag.
Der Zustand des Papyrus war besorgniserregend. Catherine blickte auf die Worte, die sie zuletzt gelesen hatte.
»Aber ich hielt unbeirrt an meinem Glauben fest.« Catherine erinnerte sich kaum noch daran, diesen Satz gelesen zu haben. Sie hatte am Abend mit dem Übersetzen angefangen. Irgendwann im Laufe der Nacht, als Garibaldi in der Kirche war, hatte sie keine Worte mehr auf dem Papyrus gesehen, sondern Bilder, die so wirklichkeitsnah zu sein schienen, daß Catherine eine Zeitlang das Gefühl hatte, mit Sabina in Britannien zu sein. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus. Die Straße war ruhig. Am Abend zuvor hatten die Leute Weihnachtslieder gesungen, und alle Häuser waren festlich beleuchtet gewesen. Am Morgen hatte sie gehört, wie andere Gäste das Haus verließen, um zum Gottesdienst zu gehen. Alle feierten Weihnachten mit einem Gang in die Kirche. Mrs. O’Toole und ihre Schwester waren zusammen mit Garibaldi erst um halb zwei morgens von der Mitternachtsmesse zurückgekommen. Catherine hatte gehört, daß sie ihn zur Feier des Tages noch zu einem Sherry einluden. Stimmen, die ich durch Wände höre, Bilder, die sich in eine quälend vertraute Wirklichkeit verwandeln, und Szenen, die ich durch Fenster sehe, wo keine Fenster sind… Catherine kam es vor, als nehme sie nicht mehr am Leben teil, sondern sei nur noch eine Beobachte-rin. So, wie sie sich auf den Stationen ihrer Flucht in der virtuellen Welt der Computer sicherer gefühlt hatte als in der Wirklichkeit, so glaubte sie allmählich, in der Vergangenheit zu leben, Sabinas Leben zu führen und nicht ihr eigenes.
Sie entdeckte Garibaldi auf dem Gehweg. Er sah eindrucksvoll aus mit dem schwarzen Hut, dem schwarzen Schal und dem langen schwarzen Mantel, den er am Vortag in der Wisconsin Avenue gekauft hatte.
»Sie müssen Ihrem Vater verzeihen, daß er damals nicht zur Schule gekommen ist…«
Und was ist mit Ihnen, Vater Garibaldi? wollte sie fragen. Warum vergeben Sie dem sechzehnjährigen Jungen nicht, daß er einem alten Mann nicht das Leben gerettet hat? Wie lange wollen wir beide uns noch selbst bestrafen und mit der Last unserer Schuldgefühle leben?
»Wir sind uns ähnlich.« Das waren Garibaldis Worte auf dem Dach des Atlantis gewesen. »Sie und ich, wir sind beide Kämpfer, wenn auch in verschiedenen Arenen.«
Catherine wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den brüchigen Papyrus auf dem Tisch. Sie hatte das Ende des fünften Buches beinahe erreicht. Danach blieb nur noch eine Schriftrolle übrig. Wenn Catherine auch diesen Text übersetzt hatte, und wenn er keine eindeutigen Hinweise über den Verbleib der siebten Rolle enthielt, war das Abenteuer zu Ende. Sie und Garibaldi würden Abschied voneinander nehmen…
Plötzlich klopfte jemand heftig an die Tür, und sie dachte, Mrs. O’Toole sei mit einer Kanne Tee zurückgekommen. Aber es war Garibaldi. Catherine ließ ihn ins Zimmer treten. Wie an jenem Tag, als sie sich zum ersten Mal im Hotel Isis begegnet waren, staunte sie auch jetzt darüber, daß er mit seiner Anwesenheit einen Raum auszufüllen schien.
»Schalten Sie den Fernseher ein«, sagte er und zog den Mantel aus. »Schnell!«
»Was…?«
»Ich habe die Ankündigung zufällig unten im Vorbeigehen gesehen. Vor den Nachrichten kommt aber noch die Werbung.«
Catherine wechselte die Kanäle, auf denen die üblichen Weihnachtssendungen zu sehen waren, und fand schließlich die Mittagsnachrichten. Wieder einmal sah sie ihr Photo auf dem Bildschirm. Erstaunlicherweise gewöhnte sie sich allmählich daran. »Was gibt es diesmal?« fragte sie besorgt. Garibaldi nahm den Hut ab, zog die Handschuhe aus und stellte den Ton lauter.
»… im Institut Technologique in Paris wurde eine Radiokarbon-Untersuchung durchgeführt, und gleichzeitig haben Paläographen in Deutschland und Großbritannien unabhängig voneinander eine Handschriftenanalyse, die sogenannte Paläographie, vorgenommen. Die Datierung des Papyrus nach der Radiokarbon-Methode verweist ungefähr auf das Jahr einhundert unserer Zeitrechnung, die Handschriftenanalyse bestä-
tigt dieses Datum.«
»Wunderbar!« flüsterte Catherine. Doch Garibaldi hob die Hand.
»Die Infrarot-Analyse des Fragments«, fuhr die Sprecherin fort, »hat ältere Schriftzeichen sichtbar gemacht, die gelöscht worden waren, die jedoch mit Hilfe von Infrarotstrahlen lesbar sind. Es handelt sich um eine Verkaufsrechnung aus der Regierungszeit des Kaisers
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