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Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Darstellung öffentlich widersprechen.«
    Die Nachrichtensendung wurde durch Werbung unterbrochen, und Catherine schaltete den Fernseher aus.
    »Da täuscht er sich. Ich bleibe unauffindbar und schweige, und ich werde weiter an der Übersetzung der Schriftrollen arbeiten.« Sie sah Garibaldi an. »Sie gehen jetzt besser. In einer Stunde fängt die Mitternachtsmesse an.«
    »Kann ich Sie wirklich nicht überreden, mit mir zu gehen?«
    »Der fünfte Papyrus ist in einem schlechteren Zustand als die anderen«, erwiderte sie. »Ich muß mit der Arbeit daran anfangen.«
    Doch Garibaldi blieb. Als sie seinen Blick auf sich gerichtet spürte, sagte sie: »Vater Garibaldi, ich kann wirklich nicht mitkommen.«
    »Weshalb nicht?«
    »In der Nacht, als meine Mutter starb, habe ich die Kirche und Gott verflucht. Ich kann nicht einfach zu-rück.«
    »Natürlich können Sie das«, erwiderte er ruhig. »Es gibt immer einen Weg zurück.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe keinen.«
    »Lassen Sie ihn sich von mir zeigen.« Sie blickte auf seine ausgestreckte Hand.
    Es war eine bitterkalte Nacht, und es wehte ein schneidender Wind. Trotzdem strömte eine große Menschenmenge durch das offene Kirchenportal. Noch immer fuhren Wagen vor und verstopften die enge Stra-
    ße.
    So viele gläubige Menschen, dachte Catherine und blickte auf die gotischen Kirchtürme, die den dunklen, sternenlosen Himmel stützten. In der Kirche spielte die Orgel ›Stille Nacht, heilige Nacht‹, und das Licht schien wie flüssiges Gold hinter den offenen Türen zu schimmern.
    Catherine beobachtete die Menschen, die in den Lichtschein traten. Manche wirkten ernst und feierlich, andere winkten fröhlich Freunden oder Bekannten zu; alte Männer und Frauen gingen langsam an ihren Stöcken, Kinder drängten sich um die hell erleuchtete Krippe.
    Als sie und Garibaldi sich der Kirche näherten, bekam Catherine Herzklopfen. Trotz der Kälte begann sie zu schwitzen und hatte plötzlich das Bedürfnis, die Daunenjacke auszuziehen. Am Fuß der Treppe blieb sie leichenblaß stehen. Garibaldi sah sie fragend an. »Ich kann nicht.«
    »Es gibt nichts, wovor Sie sich fürchten müßten.«
    »Vater Garibaldi, ich kann nicht.«
    Er sah, wie blaß sie war, und ging mit ihr in den kleinen Park an der Seite der Kirche. Zwischen den von Rauhreif bedeckten Sträuchern stand eine Bank. Catherine setzte sich völlig erschöpft dorthin, nahm den Schal ab, hob das Gesicht in den kalten Wind und schloß die Augen.
    »Warum sind Sie mitgekommen?« fragte Garibaldi und sah sie prüfend an. Da sie keine Antwort gab, sagte er: »Sie haben es für mich getan, nicht wahr?«
    »Ich mache mir Sorgen«, flüsterte sie. »Worüber?«
    »Daß Sie den Priesterrock ausziehen werden.«
    »Warum machen Sie sich deshalb Sorgen?«
    »Weil das keine Lösung ist, Vater Garibaldi. Wenn Sie das tun, werden Sie in Zukunft nur noch mehr Schuldgefühle wegen der Sache haben, die Sie jetzt schon belastet.«
    »Sie haben also geglaubt, ich würde beschließen, Priester zu bleiben, wenn ich ein verirrtes Schaf zur Herde zurückführen könnte? Catherine, Sie können nicht meinetwegen zur Kirche gehen. Das müssen Sie Ih-retwegen tun.« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Was ist an der Treppe geschehen? Sie sind plötzlich leichenblaß geworden.«
    »Ich habe mich erinnert«, erwiderte sie. »Erinnert? Woran?«

    Catherine zog die Handschuhe aus und überließ ihre feuchten Hände der kalten Luft. »Als kleines Mädchen habe ich gestottert«, sagte sie leise. »Wenn ich nervös war oder mich fürchtete, konnte ich nicht mehr richtig sprechen. Das hat sich gegeben, aber als Zehnjährige in der katholischen Schule hatte ich das Problem noch. Meine Mutter hatte die Schulleitung davon in Kenntnis gesetzt. Ich nehme an, man hat vergessen, es Schwester Immaculata zu sagen, die leider ebenfalls stotterte. Natürlich geschah das Unglück gleich am ersten Tag.«
    Catherine fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen, weißblonden Haare. Ihre Worte klangen schmerzlich.
    »Im Unterricht wurden die großen Entdecker behandelt, und ich hatte entsetzliche Angst, die Schwester könnte mich aufrufen.« Sie schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. »Natürlich tat sie es. Sie wollte von mir etwas über Vasco da Gama wissen, aber sie brachte den Namen kaum über die Lippen. ›VV-Vasco dd-da GG-Gama‹, stottete sie. Ich versuchte zu antworten und erwiderte: ›VV-Vasco dd-da GG-Gama.‹ Die Klasse brüllte vor Lachen.

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