Die Prophetin
worden ist?«
»Wir hatten noch etwas ins reine zu bringen«, erwiderte sie. »Dem hat er sich entzogen.« Catherine zog die Handschuhe wieder an. »Deshalb kann ich nicht mit Ihnen in die Kirche gehen, Vater Garibaldi. Es war seine Kirche und sein Gott. Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Ich hätte nicht mitkommen sollen.
Aber gehen Sie nur hinein, Vater Garibaldi. Sie gehören dorthin. Auf mich wartet noch Arbeit.«
Er sah ihr nach, als sie die Straße zurück zum Haus von Mrs. O’Toole und zur fünften Schriftrolle ging.
Der zwölfte Tag
Samstag, 25. Dezember 1999
»Hüte dich vor den Wesen, die ihre Gestalt verändern«, ermahnte mich Claudia, als wir unser Haus in Britannien bezogen. Sie sprach flüsternd von den Hyperboräern, die im Norden leben, und erzählte von den sagenumwobenen Arimaspi, die über ein wolkenverhangenes Reich auf dem Gipfel der Erde herrschen. Sie warnte mich vor ›dem kleinen Volk‹ und den Robbenfrauen und vor Katzen, die Neuge-borenen den Lebensodem von den Lippen stehlen.
Claudia war die Frau des Centurio, dem dieser Vorposten als Befehlshaber unterstand. Ich fragte mich nach der ersten Begegnung, ob sie vielleicht schon zu lange nicht mehr in Rom gewesen war.
Doch nach einer Weile stellte ich fest, daß sie sich in dieses seltsame, neblige Land verliebt hatte. Ich war mit dunklen Vorahnungen gekommen, denn alles hier war uns so fremd. Doch ich mußte mir bald eingestehen, daß auch ich den Wind, den Regen und die Dunstschleier über den Tälern liebte. Nichts ist schöner als das wogende Grün, das sich, so weit das Auge reicht, vor den staunenden Blicken ausbreitet, und nichts ist erhabener als die uralten Eichenhaine, in denen Geister und Feen hausen.
Philos spürte den Zauber dieses Landes ebenfalls. Er beschäftigte sich wie besessen mit den Legenden und dem reichen Schatz an Überlieferungen, denn auch hier war die Erinnerung an Riesen lebendig.
Man stellte ihm die Beweise dafür in Aussicht, daß es sie gegeben hatte.
Ich widmete mich mit ganzer Hingabe der Erziehung von Pindar und freute mich über seine Entwicklung. Und ich gründete eine kleine Gemeinde. Wir trafen uns einmal in der Woche in meinem Haus.
Auf eine Lesung des Manenbriefes folgte eine Anspräche über den Gerechten und seine Botschaft vom Frieden und dem Sieg über den Tod, bevor wir seinem Auftrag folgten, gemeinsam das Brot zu brechen und den Wein zu trinken. Ich bekehrte viele Menschen zum Weg, und sie waren wie ich davon überzeugt, daß dies der wahre Glaube ist. Ich traf Druiden, die einen uralten Himmelsgott namens Myrddin verehren. Für die Druiden gibt es nichts Heiligeres als die Mistel, die sie in ihrer Sprache
›die Allheilende‹ nennen, denn sie glauben, daß diese Pflanze jede Krankheit besiegen kann. Die Druiden haben keine Tempel oder Heiligtümer, wie wir sie kennen. Ihre Rituale finden in der freien Natur statt, und sie verehren die Eiche, auf der die Mistel wächst.
Ich beobachtete nicht ohne Sorge, wie Claudia der Magie der Druiden verfiel. Aber ich hielt unbeirrt an meinem Glauben fest.
Washington, D.C.
»Miss Garibaldi? Hallo? Sind Sie wach, meine Liebe?« Catherine ging zur Tür, öffnete sie allerdings nicht.
»Ja, Mrs. O’Toole?«
»Ich wollte nur fragen, ob Sie später zum Weihnachtsessen zu uns herunterkommen. Ich muß wissen, wie viele Gedecke wir auflegen sollen.«
»Ich glaube nicht, Mrs. O’Toole«, erwiderte Catherine. Im Haus waren die Vorbereitungen für das Festes-sen voll im Gang. Catherine stieg schon beim Aufwachen der Duft einer bratenden Gans in die Nase. »Vielen Dank für die Einladung, aber ich glaube, ich bin nicht in der richtigen Stimmung, um zu feiern.«
»Schon gut, meine Liebe. Ich bringe Ihnen einen Teller herauf. Wird Ihr Bruder mit uns essen?« Mein Bruder…
Garibaldi war zur Mitternachtsmesse in der Kirche gewesen und zum ersten Morgengottesdienst. Jetzt war er gerade in der dritten Weihnachtsmesse. »Ja«, sagte sie durch die Tür. »Er hat mir heute morgen gesagt, daß er sich schon darauf freut.« Das waren nicht ganz seine Worte gewesen. ›Mrs. O’Toole wird es vielleicht verdächtig vorkommen, wenn wir auf unseren Zimmern bleiben und ihre Einladung nicht annehmen‹, hatte er erklärt.
Catherine wußte, daß Garibaldi ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sich frei bewegen konnte, während sie in ihrem Zimmer gefangen war.
Mrs. O’Toole ging, und Catherine trat wieder an den Tisch, auf dem die fünfte
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