Die Prophetin
fügte er hinzu. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich als nächstes suchen soll.«
»Sind Sie mit der sechsten Rolle fertig?«
»Ich habe noch eine Seite zu übersetzen.«
Sie spürte seine Hand am Ellbogen. »Wollen wir sie zusammen lesen?«
Als Catherine am Morgen nach der Bahnfahrt von Detmold in Aachen angekommen war, hatte sie ein Zimmer im gutbürgerlichen Wilferterhof genommen.
Dorthin ging sie mit Garibaldi. Während sie bereits im Fahrstuhl nach oben fuhr, ließ er sich an der Rezeption ebenfalls ein Zimmer geben.
Das Hotel lag in der Stadtmitte am mittelalterlichen Stadttor. Vom Fenster konnte Catherine die engen Straßen mit dem alten Kopfsteinpflaster sehen, wo sich die Häuser aus dem dreizehnten Jahrhundert anei-nanderzulehnen schienen. Es gab keinen Autoverkehr in der Innenstadt. Nur hin und wieder fuhr jemand auf dem Fahrrad vorbei. Wenn Catherine nicht auf die Jeans und die Windjacken achtete, konnte sie sich vorstellen, durch einen Zeitsprung zurück ins Mittelalter versetzt zu sein. Ich eile durch die Zeit, dachte sie.
Deshalb bin ich abgeschnitten von dem, was mich in der Gegenwart gehalten hat… Aber nun wollte sie noch weiter zurück, an den Anfang des Christentums. Endlich konnte sie daran denken, die letzten Seiten von Sabinas Geschichte zu übersetzen.
Garibaldi klopfte an und kam herein. Waren das ihre letzten gemeinsamen Stunden? Nach der sechsten Schriftrolle gab es nichts, was sie noch zusammenhielt. Garibaldi würde in den Vatikan zurückkehren, und sie… Wohin? Wohin werde ich danach gehen?
Catherine las laut die letzten Seiten der Schriftrolle vor, und Garibaldi hörte zu.
Es ist fünf Jahrzehnte her, liebe Amelia, daß ich Sigmund ein Kind gebar. Danach bekam ich noch acht weitere Söhne und Töchter, und ich erlebte die Geburt von sechsundzwanzig Enkelkindern und sieben Urenkeln. Wir begruben Freida vor vielen, vielen Ernten auf ihrer Lieblingswiese, und ich nahm ihren Platz an der Spitze der Sippe ein, denn Freida hatte mir die Geschichten ihres Volkes als Erbe hinterlassen. Ich erzählte sie abends an den Feuern zusammen mit der Geschichte meines Lebens, von der alle sagten, sie sei wie ein Märchen. Und ich sprach zu ihnen über die Botschaft des Gerechten.
An dem Tag, als Ingomar, mein ältester Sohn, zum Zeichen seiner Mannbarkeit den ersten Schild und Speer erhielt, dachte ich an Pindar, meinen Sohn von Philos. Ich fragte mich, ob er am Leben sei, ob er die Toga erhalten habe, und ob er sich an seine Mutter und unsere Jahre in Alexandria und Britannien erinnern konnte.
Nur etwas bedauerte ich. In all den Jahren war es mir nie gelungen, meine Familie zum Weg des Gerechten zu bekehren. Die Absicht, mit der ich vor langer Zeit Antiochia verlassen hatte, nämlich seine Botschaft zu verbreiten, trug keine Früchte. Ich lebte viele Jahre in Freidas Sippe, aber ich führte niemanden zum Licht.
In dieser Hinsicht habe ich versagt.
Jetzt sind sie alle gegangen, liebe Schwestern. Sigmund, unsere Söhne und Töchter, die ganze Sippe.
Sie wurde in einem einzigen Augenblick ausgelöscht. Wie lange bin ich jetzt schon hier bei meiner Gastgeberin Perpetua? Um das zu beantworten, muß ich die Zeit hinzuzählen, die ich durch die Wälder gezogen bin. Ich weiß aber selbst nicht, ob es ein Monat oder ein Jahr war – vielleicht auch sehr viel länger.
So lange ist es jedenfalls her, daß sie alle getötet wurden. Es war ein Überraschungsangriff. Wir hatten keine Ahnung, daß die Feinde aus dem Norden kommen würden. Wir waren nicht darauf vorbereitet. Unsere Männer kämpften tapfer, doch die Angreifer waren in der Überzahl Ich floh in den Wald.
Ich blieb nicht bei meiner Familie. Ich kämpfte nicht an ihrer Seite, und ich starb nicht mit ihnen. Ich versteckte mich wie ein Kind. Ich fürchtete mich vor…
»Ich fürchtete mich vor…«
Catherine verstummte. Die Stille des Winters breitete sich nach ihren Worten im Zimmer aus. Schließlich hob sie den Blick von dem Papyrus.
»Das ist es«, sagte sie leise. »Das ist alles, was wir von Sabinas Geschichte haben.«
Sie sah die Enttäuschung in Garibaldis Gesicht. Sie wußte, er hatte gehofft, Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Schade…«, flüsterte sie.
»Schade…« Er seufzte. »Ich hätte Ihnen so sehr gewünscht, daß Sie die siebte Schriftrolle auch noch übersetzen können.« Er ließ den Kopf sinken und fügte hinzu: »Es tut mir wirklich
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