Die Prophetin
gearbeiteten Säulen standen, die wiederum auf anderen Säulen und Bögen ruhten und sich zu einer gewölbten Decke hinauf in eine himmlische Höhe schwangen, wo Heilige und Apostel in erhabener Größe über einen goldenen Untergrund schritten.
Catherine war wie gebannt. Ihr plötzlich überwaches Bewußtsein nahm noch andere Einzelheiten wahr, die zu dem unvergleichlichen Zauber des Augenblicks beitrugen. Durch die hohen bunten Glasfenster fielen Regenbogenfarben in den Chor und tauchten den goldenen Schrein in ein überirdisches Licht. Hier ruht Karl der Große, dachte Catherine voll Ehrfurcht. Der große Kaiser gehörte fast schon in das Reich der Legende, aber er war auch eine historisch greifbare Gestalt. Sein Leben und Werk hatten das Land geeint, und er führte sein Volk aus den Wirren der Kriege und Glaubenskämpfe in eine neue Zeit. Der Dom zu Aachen, das Grab des fränkischen Kaisers, erinnerte jedoch auch an einen anderen Sieg. Der Dom war eine Manifestation des Triumphs nicht nur über Feinde, sondern über alles Irdische, das nach Vollendung strebt.
Von einem der gotischen Stützpfeiler blickte eine Madonna mit soviel Verständnis und Erbarmen auf die Menschen herab, daß Catherine von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Ihre ganze innere Not brach sich plötzlich Bahn. Sie lehnte sich haltsuchend an einen Pfeiler. Alles stürmte in einem Kaleidoskop der Bilder, Empfindungen und Erinnerungen auf sie ein. Dreiundzwanzig Jahre gläubigen Katholikentums schlugen wie eine Flutwelle über ihr zusammen, bevor es ihr gelang, sich mit der Kraft ihrer Vernunft davor in Sicherheit zu bringen.
Es war weit schlimmer als das versinkende Atlantis, denn vor der Katastrophe in ihrem Inneren gab es kein Entrinnen. Catherine stand wie gelähmt an der Säule. Sie war ein hilfloses leeres Gefäß, in das sich der Glaube, die Passion, die Pein und der Kummer ergossen, die der Dom so lange in sich aufbewahrt hatte, während er darauf wartete, daß jemand hereinkommen und all das in sich aufnehmen werde. Catherine brach unter dieser Last beinahe zusammen.
Ihr Bewußtsein versuchte, sich gegen den Ansturm zu wehren. Sie rief sich die vielen Argumente und die berechtigten Anklagen ins Gedächtnis, um die Woge der Nostalgie und der emotionalen Schwäche zurückzudrängen. Aber die Erinnerungen kamen in immer neuen Wellen – das leichte und befreite Gefühl nach der Beichte, die Hostie im Mund und das naive Vertrauen darauf, daß diese heilige Handlung sie mit allen Katholiken auf der ganzen Welt und über alle Zeiten hinweg mit Jesus verband. Auch Erinnerungen, die nichts mit der Kirche zu tun hatten, drängten sich auf – Catherine saß an einem großen Schreibtisch und beobachtete ihre Mutter bei der Arbeit, die ihr geduldig zeigte, wie der Neigungswinkel eines Pinselstrichs Handschriften um Jahrhunderte voneinander trennte. Sie sah ihren Vater, der staunend auf seine Tochter blickte und sagte: »Wir hatten nicht mehr geglaubt, daß wir Kinder haben könnten. Du bist ein Segen Gottes, und es ist ein Segen, daß du noch so spät in unser Leben gekommen bist.«
Der Strom riß nicht ab. Catherine spürte, wie der harte Panzer, der so lange ihr Herz umschlossen hatte, dem inneren Sturm nicht länger standhalten konnte. Er zersprang und fiel wie eine alte, abgelegte Hülle von ihr ab.
Julius! rief sie stumm. Es tut mir so leid. Du bist nur deinem Gewissen gefolgt. Du hast getan, was du für richtig hältst. Ich habe darin einen Verrat an mir gesehen. Ich habe mich geirrt. Danno, rief ihr Herz den Marmorwänden und stummen Statuen zu. Du bist meinetwegen ermordet worden. Es war meine Schuld. Und ich bin nicht einmal bei dir geblieben, um deiner Seele beim Antritt ihrer letzten Reise zu helfen. Catherine glaubte zu ersticken. Sie klammerte sich an den kalten Stein. Sie kämpfte sich verzweifelt durch die Fluten ihrer Gefühle.
Mutter, ich hätte Vater McKinney wegschicken sollen, sobald ich ihn im Krankenhaus sah. Ich hätte auf einem anderen Priester bestehen müssen.
Zitternd richtete sie sich auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Garibaldi.
Sie löste sich entschlossen von dem Stein und den Erinnerungen. Als sie plötzlich über den weiten Raum hinweg eine Gestalt mit einem traurigen Gesicht sah, traute sie ihren Augen nicht. Sie hielt ihn für eine Erscheinung, für das Produkt ihres aus den Fugen geratenen Bewußtseins. Doch dann trat er aus dem Schatten eines Pfeilers, und sie wußte, daß es tatsächlich
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