Die Prophetin
Garibaldi war. Es überraschte sie nicht, daß er sie gefunden hatte. Sie war sicher, daß die Äbtissin ihm seine Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte. Er war ein Priester, dem man die Wahrheit anvertrauen konnte, selbst wenn er jetzt nicht wie ein Priester gekleidet war. Auch Catherine trug nicht mehr das lange schwarze Gewand einer Nonne, sondern die unauffälligen Sachen, die sie in Detmold gekauft hatte.
Er kam auf sie zu und hob die Hände in einer Geste der Kapitulation.
»Keine Angst«, sagte er leise, »ich habe niemandem gesagt, wo Sie sind.«
Das hatte sie auch nicht erwartet. Sie wußte in ihrem Herzen, er hatte sich selbst zu dieser Reise entschlossen. Er war nicht auf Befehl des Vatikans hier, sondern weil ihn etwas in seinem Innern dazu trieb, so wie etwas in Catherine sie auf Sabinas Spuren hierher in diesen Dom geführt hatte.
Sie trafen sich unter einem Steinbogen mitten in dem langen hohen Gang. Garibaldi flüsterte unwillkürlich, als wage er nicht, die Stille mit profanen Worten zu stören.
»Sie haben uns vielleicht einen Schreck eingejagt, als die Beamten des FBI kamen, und es so aussah, als seien Sie im Nachthemd aus dem Fenster gestiegen, um durch den Schnee zu fliehen.« Catherine konnte ihm nicht sofort antworten. Sie suchte noch immer ihre von Gefühlen zerrissene Seele in den dunklen Hö-
hen der Kuppel. Es dauerte eine Weile, bis es ihr schließlich gelang, auf die Erde und in die Wirklichkeit zurückkehren. »FBI…?« murmelte sie. »Wie hat das FBI den Weg zum Kloster gefunden?«
»Wahrscheinlich durch einen Hinweis von Havers«, antwortete Garibaldi und blickte sie besorgt an. »Es würde mich nicht überraschen, wenn er einen der Beamten bestochen hätte. Jedenfalls standen im Morgen-grauen vier Männer vor der Pforte.« Er legte ihr den Arm um die Schulter. Catherine wehrte sich nicht dagegen. In diesem Augenblick war sie für seinen Schutz und seine Kraft dankbar. Sie gingen langsam durch den Dom. »Von der Äbtissin habe ich erfahren, daß Sie den Computer zurückgelassen haben…«
»Ich war schon lange weg, bevor die Beamten gekommen sind.« Sie senkte den Kopf. Hatte er es gesehen?
War Garibaldi Zeuge ihres Augenblicks seelischer Ekstase gewesen? »Ich dachte, wenn Havers der Computer in die Hände fällt, dann ist er eine Weile zufrieden.« Catherine zwang sich zu reden und beobachtete sich dabei wie eine Zuschauerin aus großer Höhe. »Ich habe sogar eine Datei angelegt, weil ich hoffte, er werde sie finden und sich auf eine falsche Fährte locken lassen. Mit etwas Glück sind seine Killer auf dem Weg nach Äthiopien…«
»Sie sind also mitten in der Nacht geflohen, Catherine?« Er schüttelte den Kopf. Dann fragte er schuldbe-wußt: »Meinetwegen?«
Sie sah ihn an. »Es tut mir leid, Vater Garibaldi, daß ich Sie geschlagen habe. Das hätte ich nicht tun sollen.
Aber ich war entsetzt, wütend und enttäuscht.«
»Ich nehme es Ihnen nicht übel. Es tut mir leid, und ich entschuldige mich. Du meine Güte, Sie waren meinetwegen so in Panik, daß Sie mitten in der Nacht bei Eis und Schnee vor mir aus dem Kloster geflohen sind.«
»Das lag nicht an Ihnen – nun ja, nicht nur…« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was immer unter der Kuppel mit ihr geschehen war, es würde tiefgreifende Folgen haben. Sollte sie es eine Epiphanie nennen, ein spirituelles Erlebnis? Catherine spürte die Nachwirkungen noch immer und bemühte sich darum, Garibaldi zuzuhören und ihm vernünftige Antworten zu geben. »Es war vor allem diese Nachricht, die wir in Washington über E-Mail bekommen hatten«, sagte sie leise. »Mir war klar, daß es nicht lange dauern wür-de, bis Havers uns wieder auf der Spur war. Als ich den Anfang der sechsten Rolle las und feststellte, daß Sabina nach Germanien gegangen war, beschloß ich, keine Zeit zu verlieren. Ich habe in meinem Zimmer alles so hingelegt, daß es aussah, als sei ich aus dem Kloster geflohen.«
»Wir müssen demjenigen, der die Nachricht geschickt hat, für immer dankbar sein. Er hat mit seiner Warnung viel riskiert.« Catherine zuckte zusammen. »Ach du liebe Zeit…«
»Was ist?«
»Die Nachricht. Daran habe ich nicht gedacht! Ich habe sie nicht gelöscht! Havers kann jetzt denjenigen ausfindig machen, der sie geschickt hat!«
»Ich bin sicher, wer immer es gewesen ist, er wußte, daß er vorsichtig sein muß. Er wird anonym im Internet gewesen sein.« Catherine hätte das nur zu gerne geglaubt. Aber der Absender
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