Die Prophetin
ihr teilen. Wenn sie erst verheiratet waren und mehr Zeit miteinander verbrachten, würde sich vieles in seinem und auch in ihrem Leben ändern…
Catherine erreichte endlich das verwitterte Holzhaus am Strand. Die Geranien auf der Terrasse waren im strömenden Regen kaum zu sehen. Jetzt würde die Stunde der Wahrheit kommen, und ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Es war ihr schwergefallen, Julius nichts von den sich überstürzenden Ereignissen zu sagen, als sie ihn aus New York angerufen hatte. Aber die Sache mit den Schriftrollen mußte sie ihm persönlich sagen. Außerdem wollte sie seine Reaktion sehen, wenn sie ihm die alten Papyri zeigte. Sie zweifelte nicht daran, daß er ihre Freude teilen würde. Julius war neben Danno schließlich der einzige Mensch, der sich in ihre Gefühle hineinversetzen und ihre Zielsetzungen teilen konnte.
Während sie auf eine Lücke im dichten Gegenverkehr wartete, blickte sie auf das bescheidene kleine Strandhaus. Wie die meisten Häuser in dieser Gegend von Malibu wirkte es unauffällig und schlicht. Niemand ahnte, daß es über eine Million Dollar wert war.
Bei dem Gedanken an Julius, der sicher schon auf sie wartete, freute sie sich. Sie wollte nicht in ihre Eigen-tumswohnung in Santa Monica zurückkehren, sondern hierbleiben und in aller Ruhe die Schriftrollen übersetzen.
Endlich war die Straße einen Augenblick lang frei. Sie bog schnell in den schmalen Weg ein, der zur Auffahrt führte. Als sie sich dem Haus näherte und der laute Verkehr hinter ihr zurückblieb, sah sie, daß die Haustür offenstand. Julius hatte sie bereits gesehen.
»Catherine!« rief er und lief ihr durch den strömenden Regen entgegen. »Gott sei Dank, du hast es geschafft!« Er hielt ihr die Wagentür auf und schloß sie in die Arme. Für seinen langen leidenschaftlichen Kuß gab es keinen Sturm und keine Wolken.
»Wir werden uns noch erkälten!« rief Catherine schließlich und rang nach Luft.
»Komm schnell ins Haus. Das Feuer im Kamin brennt. Ich trage deine Sachen hinein.«
Als Catherine das gemütliche Wohnzimmer betrat, erschienen zwei gutgenährte Katzen und strichen ihr schnurrend um die Beine. Es waren Radius und Ulna, eine Schildpattkatze und eine Mankatze, die Julius beide sehr verwöhnte. Sie erinnerten sich an Catherine, denn auch sie spielte stets mit den beiden und streichelte sie.
»Ach Julius, es ist so schön, wieder bei dir zu sein!« rief sie, als er ins Zimmer trat und die Tür schloß. Vor zehn Wochen hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Sie musterte ihn lange und aufmerksam und konnte kaum glauben, daß er wirklich vor ihr stand.
Julius war zweiundvierzig Jahre alt. Seine pechschwarzen Haare reichten ihm bis in den Nacken, und er trug einen kurz geschnittenen Bart, in dem sich das erste Grau zeigte. Dr. Julius Voss war der Leiter des angesehenen Freers Instituts in West Los Angeles und sah unbestreitbar sehr gut aus. Er war kein Sportler, aber Catherine fand ihn unwiderstehlich. Dazu trugen auch der lässige Pullover mit den alten Lederflecken an den Ellbogen, die bequemen Mokassins und die immer griffbereite Meerschaumpfeife bei. Julius war ein angenehmer und unaufdringlicher Mann. Er gehörte zu den ruhigen, stillen Menschen, die innere Kraft ausstrahlen. Catherine fühlte sich in seiner Nähe geborgen. Er lebte im Einklang mit sich selbst, ohne sich etwas beweisen zu müssen. Schon bei der ersten Begegnung waren Catherine seine dunklen, forschenden Augen aufgefallen, und auch deshalb liebte sie ihn.
»Setz dich ans Feuer«, sagte er. »Du mußt dich erst einmal aufwärmen.« Er nahm ihr die Jacke ab und brachte sie hinaus. Als er zurückkam, breitete er die Arme aus, sie drückte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter.
»Du bist bestimmt müde«, murmelte er, umarmte sie zärtlich und strich ihr über die Haare. Catherine ließ ihn nicht los. Sie lauschte auf den Regen und das leise Knistern des Feuers. Nein, sie war überhaupt nicht müde. Erschöpfung und Müdigkeit schienen für alle Zeiten aus ihrem Leben verschwunden zu sein. Die Schriftrollen warteten und versprachen die Enthüllung uralter Geheimnisse und aufsehenerregender Erkenntnisse. Schließlich löste sie sich von ihm, küßte ihn zärtlich auf den Mund und sagte: »Ich muß jemanden anrufen.« In New York und auch nach der Ankunft in Los Angeles hatte Catherine mehrmals vergeblich versucht, Daniel in Santa Barbara zu erreichen. Er hatte Ägypten gleichzeitig mit ihr verlassen,
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