Die Prophetin
wenn auch mit einer anderen Maschine. Da der Schneesturm ihre Ankunft verzögert hatte, dachte sie, Daniel werde vor ihr zu Hause sein. Aber bis jetzt hatte er sich nicht gemeldet.
Sie stand in der Küche, und die beiden Katzen rieben schnurrend die Köpfe an ihren Beinen, während sie Daniels Nummer wählte. Er meldete sich nicht. War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Catherine ging zu-rück ins Wohnzimmer. Julius hatte Holz nachgelegt, und die knisternden Flammen schlugen hoch. Ein Klavierkonzert von Mozart sorgte für Atmosphäre. Julius fragte: »Alles in Ordnung?« Sie runzelte die Stirn. »Nein. Daniel müßte längst zu Hause sein.«
Er reichte ihr ein Glas Wein und bot ihr den großen bequemen Sessel vor dem Kamin an. »Das ist ein Ca-bernet Sauvignon. Den habe ich für einen besonderen Anlaß aufgehoben. So, nun erzähl mir alles und laß mich nicht länger im unklaren. Hast du den Mirjam-Brunnen gefunden?«
»Ja… vielleicht.«
Sie erzählte ihm von den Ereignissen an dem schicksalhaften Morgen, ohne jedoch die Schriftrollen zu erwähnen. Dabei sah sie sich im Wohnzimmer um. Es war vertraut und schön, und nach den Wochen in der Wüste empfand sie die lange entbehrte Umgebung als wahren Luxus. Spielzeug für die Katzen lag auf dem Boden, überall hingen Familienphotos. Julius hatte viele Pflanzen und ein Aquarium mit tropischen Fi-schen. Die Anzeichen eines geordneten Lebens, dachte Chatherine und lächelte.
Julius schien in seinem Haus ganz bewußt ein Gegengewicht zu seinem Beruf zu schaffen, der ihn Tag für Tag mit Krankheit und Tod konfrontierte. Über dem Kamin hing ein in Holz geschnitzter Spruch: ›Mortui Vivos Docent – Die Toten lehren die Lebenden. ‹
Aber dann sah sie noch etwas. Das Chanukkah-Fest war seit sechs Tagen vorüber, aber die vertraute Meno-rah und die Dreidel, die Julius seit seiner Kindheit besaß, sowie das Buch der Makkabäer in Hebräisch und Englisch, ein Geschenk seines Großvaters, lagen alle noch auf einem Tisch. Selbst das bunte Geschenkpapier hatte Julius noch nicht weggeräumt. Ihr Blick fiel auf einen neuen Gebetsschal mit Fransen.
Plötzlich erfaßte sie eine unbestimmte Unruhe. Sie trank einen Schluck Wein und versuchte, den Grund dafür zu finden. Aber es gelang ihr nicht. Sie wußte nur, daß die Freude, wieder bei Julius zu sein, schlagartig überschattet war.
Catherine drängte das Gefühl zurück und sagte: »Julius, du hast gestern am Telefon angedeutet, daß du auch Neuigkeiten hast. Geht es um das neue Projekt, das man dir angeboten hat?« Er schob umständlich mit dem Schürhaken ein brennendes Stück Holz zurück, das zu weit nach vorne gerollt war. Dann legte er den Schürhaken beiseite und setzte sich ihr gegenüber. Die züngelnden Flammen spiegelten sich in seinen dunklen Augen.
»Catherine«, begann er mit belegter Stimme, »es ist mir gelungen, dir im Institut eine Stelle zu verschaffen.
Unser Paläograph hat gekündigt, und wir brauchen unbedingt jemanden, der sehr gut ist. Die Stelle ist großzügig dotiert und sicher.« Es war heraus. Er sah sie gespannt an und fragte: »Was sagst du dazu?«
Noch ehe sie antworten konnte, fügte er schnell hinzu: »Ich kenne deine Einwände. Aber keine Angst, du kannst deine Grabungen in Scharm el Scheich fortführen. Die Arbeiten müssen nicht im Institut erledigt werden. Du kannst dir Photokopien der Manuskripte mit in den Sinai nehmen und dort in aller Ruhe daran arbeiten. Aber mit dieser Stelle mußt du in Zukunft nicht immer bei Ausgrabungen sein. Du wirst hier in Kalifornien leben und kannst mit mir zusammen etwas aufbauen. Wir können unser Leben gemeinsam nach unseren Wünschen gestalten.«
»Julius«, flüsterte sie. »Das ist wirklich eine Überraschung. Darauf war ich nicht vorbereitet.« Er lachte.
»Das weiß ich. Nun, was sagst du dazu?«
»Das ist natürlich ein verführerisches Angebot…«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich über eine Lösung nachgedacht habe, die es dir erlaubt hierzubleiben, damit wir endlich heiraten können.«
Catherine stellte das Glas ab. »Aber Julius, ich habe nicht die Absicht hierzubleiben.«
Sie stand auf und ging zur Glastür. Dicke schwarze Wolken jagten über den Himmel. Sie sahen so bedrohlich aus, als wollten sie ganz Malibu verschlingen. »Die Stelle im Institut klingt wirklich interessant, aber ich muß mich auf meine Arbeit in Scharm el Scheich konzentrieren. Vergiß nicht, ich habe vielleicht wirklich den Brunnen der Prophetin
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