Die Prophezeiung
erschlafft und Katie hätte sich befreien können, aber etwas in seinem Tonfall hielt sie davon ab.
»Die Lichtstraße«, sagte er und seine Stimme wurde so schleppend, als müsse er um jeden seiner Gedanken ringen, als wäre es eine kaum zu ertragende Last, jeden einzelnen Buchstaben auszusprechen. Er wandte das Gesicht dem See zu und kniff die Augen zusammen. »Siehst du sie, Katie? Siehst du sie? Manchmal verschwindet sie, dann ist sie wieder da.« Angst sprach aus seinem Blick. »Du siehst sie doch auch, Katie, oder?«
Sie hielt den Atem an.
»Die Lichtstraße führt in die Unendlichkeit. Ich habe es gewusst, nur deshalb bin ich mit dir auf den Berg gestiegen. Weil der Gletscher«, flüsterte er nun, »der Gletscher ist nicht wirklich da, verstehst du? Er ist nur eine Spiegelung der Milchstraße und weißt du, wohin sie uns führt? Uns alle?«
Katie sah, wie sich zwei Gestalten auf dem Weg näherten, Arm in Arm. Chris und Julia. Gott sei Dank! Sie würden ihr helfen, Ben auf die Krankenstation zu bringen, denn da gehörte er hin, und zwar schleunigst, wenn sie das richtig sah.
»And if you listen very hard. The tune will come to you at last … «, begann Ben zu singen und es klang fast, als ob er weinte. »When all are one and one is all – to be a rock and not to roll.«
Sie winkte Chris und Julia zu, damit sie sich beeilten.
»And she’s buying a stairway to heaven.«
Katie räusperte sich, trat von hinten an ihn heran und legte die Hand auf Bens Schulter. Sie war dreckig und feucht. »Irgendwann wird dich jemand dem Dean melden, Ben«, sagte sie eindringlich, »und dann fliegst du vom College, verstehst du?«
»Niemand kann mich aus dem Tal werfen, Katie, das ist unmöglich.« Seine Stimme klang fast tonlos. »Es gibt keinen Weg zurück, wenn man erst einmal so weit gekommen ist.«
»Ach ja? Du wirst sehen, wie schnell das geht.«
Sein Kopf schnellte herum. Plötzlich war sein Gesicht wieder völlig normal, trug den heiteren Ausdruck, der für Benjamin typisch war. Zwar waren die Pupillen noch immer geweitet, aber sein Blick war ganz klar.
Julia und Chris waren nur noch wenige Schritte entfernt, als er sagte: »Du hast keine Ahnung, worum es hier oben geht, oder?«
Benjamin ließ Katie stehen, noch bevor Chris und Julia sie erreichten. Er ging mit schnellen Schritten querfeldein über den Rasen auf den historischen Teil des Collegegebäudes zu, dessen Schornsteine und Giebel sich fast unwirklich klar gegen den blauen Himmel abhoben. Katie starrte ihm fassungslos hinterher und konnte nicht glauben, dass Ben noch nicht einmal schwankte.
Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob er ihr einfach nur etwas vorgespielt hatte. Die Frage war nur – warum? Katie versuchte, sich zu erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Es fiel ihr nicht ein. Es war Prüfungszeit und jeder war mit sich beschäftigt. Sie hatten kaum Zeit, sich zu treffen oder miteinander zu reden. Vermutlich war er in einem der Grundkurse gewesen, sie hatte ihn nur nicht bemerkt.
»Ist was?«, fragte Julia, als sie und Chris bei Katie angelangt waren. »Du siehst aus, als wäre hier gerade ein Geist vorbeigekommen.«
»Chris, was ist mit Benjamin los?«, fragte Katie statt einer Antwort.
»Was soll mit ihm los sein?«
»Er ist völlig von der Rolle.«
Chris lachte. »Das ist doch nichts Neues.«
»Nein, nicht wie sonst. Er war total aggressiv.«
»Ben?« Julia schüttelte ungläubig den Kopf.
»Außerdem hat er wirklich seltsame Dinge erzählt.«
Chris zuckte mit den Schultern und grinste. »Vielleicht hat er sich mit seinem Lover gestritten?«
»Lover?«
»Das weißt du noch nicht?« Auch Julia lachte nun.
»Was?«
»Er ist mit Tom zusammen, einem der Senior-Studenten. Der aus dem Collegetheater – erinnerst du dich an seinen grauenhaften Hamlet?«
Katie schüttelte den Kopf. »Tom und Benjamin? Das hat mir bisher niemand erzählt.«
»Tja«, sagte Chris und hob die Hände, »seitdem sie Debbie in die Psychiatrie gesteckt haben, versagt der Nachrichtendienst am Grace. Dann wüsstest du, was los ist. Benjamin hat sich schon ewig nicht mehr im Apartment blicken lassen. Vermutlich wohnt er bei Tom im Bungalow. Ich habe sogar das Gefühl, er vernachlässigt seine Filmerei.«
Katie überlegte. »Hört mal, er wirkte alles andere als frisch verliebt. Er war völlig zugedröhnt, hat etwas von Lichtstraßen und Aufträgen gelallt.«
Julia pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Schade, dass wir zu
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