Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
berührte den Ellbogen seines Freundes. Henry Courtenay nickte und stieg weiter aufwärts, doch seine Hand am Geländer zitterte.
Ich danke Gott und der Heiligen Jungfrau, dass Gertrude dies nicht miterleben muss .
Courtenay und Montague übergaben dem Henker ihre Münzen – man musste für seine Hinrichtung bezahlen – und nahmen ihre Plätze vorn auf dem Schafott ein.
Ich atmete kurz und hastig. Beten konnte ich nicht. Ich hatte versucht, mich zu wappnen, doch jetzt, da es so weit war, hatte ich Mühe, die Wellen von Furcht und Schmerz niederzuhalten.
Henry Courtenay, mein Cousin, trat vor.
»Schau zu mir, Henry«, flüsterte ich, doch sein glasiger Blick geisterte unstet über die Menge.
Er hustete, dann sagte er: »Ihr guten Christenmenschen, hier bin ich, um zu sterben, vom Gesetz zum Tode verurteilt. Betet für den König, euren gerechten und gnädigen Herrn. Und vertraut auf Gott, dem ich jetzt meine Seele empfehle.«
Nie erging sich am Ende jemand in Unschuldsbeteuerungen oder bitteren Worten – das war nur Momente vor dem Eintritt in die Ewigkeit undenkbar. Und ich wusste, warum Henry im Besondern den König preisen musste. Er wollte Gertrude und Edward schützen.
Henry Courtenay kniete nieder und legte den Kopf auf den Block.
Ich schloss die Augen, ich muss es zu meiner Schande gestehen. Ich war ein elender Feigling. Schweiß trat mir auf die Stirn.
Ich hörte einen dumpfen Schlag. Das Beil fiel mit solcher Wucht auf Henrys Nacken hinunter, dass der Boden unter meinen Füßen bebte.
»Herr Jesus«, flüsterte der Graf von Surrey hinter mir. »Danke Gott, dass nur ein Schlag nötig war«, sagte sein Vater.
Ich öffnete die Augen. Der kopflose Leichnam Henry Courtenays lag neben dem blutüberströmten Richtblock. Die Wärter trugen ihn nach hinten und legten ihn in eine lange Kiste, neben der eine zweite, noch leere stand.
Ein Mann hob einen Sack zum Rand des Gerüsts empor und nahm den vom Rumpf getrennten Kopf darin auf. Als er sichumdrehte, erkannte ich Charles, den Haushofmeister der Courtenays.
Ich blickte zu Baron Montague hinauf. Er weinte nicht, er zitterte nicht einmal.
Ein Sheriff sagte etwas zu ihm, doch er rührte sich nicht.
Jetzt war es an ihm, sein Leben zu lassen, und ich verstand alles. Henry war der gütigere Mensch, ein besserer Mensch, wenn man alles in Betracht zog. Doch Montague war der Stärkere. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass er darauf bestanden hatte, dass Henry zuerst starb. Dieses Gemetzel ansehen zu müssen und zu wissen, dass man selbst folgen würde – das verlangte eine Stärke, die vermutlich nicht viele besaßen.
Nun trat auch Montague vor. Sein Auge schweifte, bis es Norfolk fand – und dann mich. Als unsere Blicke sich trafen, atmete ich ruhiger; der Schweiß auf meiner Stirn trocknete.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich sprach keinen Psalm und kein Trauergebet für die Toten. Ich sprach den täglichen Segen der Dominikaner. »Gott der Vater segne uns.«
Montague nickte, als verstünde er mich.
»Gott der Sohn heile uns«, sagte ich lauter.
Norfolk drehte sich nach mir um, er hob die Hand, doch ich trat schnell nach vorn. Ich ging geradewegs auf das Gerüst zu. Norfolk folgte mir nicht.
»Der Heilige Geist erleuchte uns und gebe uns Augen zu sehen, Ohren zu hören und Hände, das Werk Gottes zu tun«, fuhr ich mit schallender Stimme fort.
Die Leute wichen zur Seite, um mir Platz zu machen, als ich dem Blutgerüst entgegenging. »Füße zu gehen und einen Mund, das Wort des Heils zu predigen«, sagte ich. Ich wusste, dass sie mich alle beobachteten: Norfolk und sein Sohn, Cromwell und Wriothesley, Botschafter Chapuys und der ganze jämmerliche Hofstaat. Es war mir egal.
Ich war jetzt nur noch wenige Fuß von ihm entfernt. Ich neigte den Kopf so weit wie möglich in den Nacken, um Montague ins Gesicht sehen zu können.
»Der Engel des Friedens wache über uns und führe uns endlich, durch die Gnade unseres Herrn, ins Königreich«, sagte ich.
Der Segen war gesprochen.
Montague blickte über mich hinweg in die Menge. Es hatte aufgehört zu regnen. Ein leichter Wind bewegte sein Haar.
»Lang lebe der König«, rief Montague so laut, dass es über den ganzen Hügel schallte.
Die Menge wartete. Aber es kam nichts mehr.
Montague drehte sich um und kniete mit einer schnellen, anmutigen Bewegung nieder. Er legte den Kopf auf den Block. Sein Blick suchte wieder den meinen, und als wäre niemand außer uns auf dem Tower Hill, sagte er:
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