Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
jetzt konnte ich die Bühne erkennen, die man vor dem Torhaus des Palasts errichtet hatte, und die Männer, die sich dort oben versammelt hatten.
In der Mitte stand König Heinrich, der alle anderen um Haupteslänge überragte. In den zwölf Jahren, die seit meiner letzten Begegnung mit ihm vergangen waren, hatte ich vergessen, was für ein Hüne er war. Er trug ein tiefblaues Brokatwams mit geschlitzten, goldbesetzten Ärmeln. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, hatte man den Eindruck eines schwankenden Schiffs, so unglaublich dick war er geworden. Als ich näher herankam, konnte ich auch das rotgoldene Haar erkennen, das unter seinem Barett herabhing. Es hatte die gleiche Farbe wie das Haar meines Onkels, des Herzogs von Buckingham. Wir waren miteinander verwandt, so verhasst mir dies war. Die Großmutter des Königs war die Schwester meiner Großmutter gewesen.
Eine Frau zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen der Begleiter des Königs und rief: »Das ist der Bürgermeister.«
Ein dicker Mann trat aus der ersten Reihe der zur Musterung Angetretenen und verbeugte sich vor dem König und seinem Kronrat. Heinrich sagte mit seiner schrillen Stimme etwas zu ihm und wies dann kurz auf den Mann, der etwas im Hintergrund neben ihm stand.
Thomas Cromwell trat vor, auch heute wieder sehr nüchtern gekleidet.
»Lordsiegelbewahrer, Euch ist die Stadt London hoch verpflichtet und wird es immer sein«, rief dröhnend der Bürgermeister. »Wir sind bereit, den Streitkräften dieser falschen Schlange, des Bischofs von Rom, entgegenzutreten.«
»Danke Euch, Sir William«, sagte Cromwell. Was für eine farbloseStimme, weder hoch noch tief, weder aristokratisch noch gewöhnlich. Sie hätte jedem gehören können – doch sie gehörte dem Mann, der die Zerstörung der Klöster geplant und geleitet hatte.
Ich betrachtete die Gesichter der Männer, die zur anderen Seite des Königs standen, und mein Blick fiel sogleich auf den Herzog von Norfolk, den der König auserwählt hatte, sein Heer in die Schlacht zu führen, wenn es zum Krieg kommen sollte. Heute blickte er auf die zukünftigen Soldaten hinunter, die vielleicht auf seinen Befehl ihr Leben lassen würden.
Nicht weit von Norfolk entdeckte ich Bischof Gardiner, unzweifelhaft der Autor der Sechs Artikel. Er warf einen Blick zum König, sah einen Moment zum Bürgermeister hinunter und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf die Frauen, die gekommen waren, um den König zu sehen.
Ich konnte mich jetzt nicht umdrehen und versuchen, mich hinter einer der Frauen zu verbergen, eine solche Bewegung wäre dem Bischof womöglich aufgefallen. So hielt ich mich also stocksteif, meinen Blick zum Boden der Bühne gerichtet, wo ich nichts als die Schuhe der hohen Lords von England vor Augen hatte. Ich zählte bis fünfzig, dann hob ich langsam den Blick. Gardiner hatte mich in der Menge nicht erkannt. Ich war einst seine bevorzugte Zuträgerin gewesen. Jetzt war ich nur ein anonymes Gesicht in einer Menge gewöhnlicher Frauen aus dem niederen Volk.
Von sechs Pferden gezogen rollte der bisher größte Wagen heran, mit zwei Kanonen beladen. Mehrere Männer ließen sie zum Boden hinunter und suchten die beste Zielrichtung für eine Vorführung.
Der König wedelte mit dem Arm und rief schrill: »Nicht in diese Richtung, dreht sie dort hinüber.« Er trat zum Rand der Bühne, in seinen Bewegungen so steif und mühsam wie ein alter Mann. Er wirkte wie ein Greis neben Norfolk, der doch beinahe zwanzig Jahre älter war als er.
Während ein Dutzend Männer sich mühte, die Wünsche des Königs auszuführen, schob ich mich seitlich aus der Frauengruppehinaus. Bevor ich Whitehall hinter mir ließ, blieb ich noch einmal stehen, um einen letzten Blick auf die vier Männer auf der Bühne zu werfen: König Heinrich, Cromwell, Gardiner und Norfolk.
Ich bringe es wieder in die rechte Ordnung, Edmund , gelobte ich. Ich führe das Land zurück in die Gnade, den Glauben und den Gehorsam gegenüber dem Heiligen Vater. Ich werde dich kein zweites Mal im Stich lassen.
Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, die Baumreihe entlang über das flache, sumpfige Feld. Hinter mir hörte ich wiederholt Kanonenfeuer, während ich meinem Ziel entgegeneilte. Die Sonne stand tief am Horizont – es war fast Zeit zum Abendessen –, als ich es erreichte. Diese stattlichen Häuser trugen Nummern, und ich brauchte nicht lang, um die zu finden, die ich suchte. Drei sehr kräftige Männer standen Wache vor dem
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