Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
schnell auf der Themse dahin, es war das dritte Mal, dass ich auf diesem Weg von Dartford nach London reiste.Die erste Reise hatte ich in aller Heimlichkeit unternommen – zwei Jahre war das erst her, dennoch war ich damals ungleich jünger und unerfahrener gewesen. Das zweite Mal hatte ich in Gesellschaft einer adeligen und reichen Familie, der es nicht an Hochmut fehlte, diesen Weg genommen. Der König hatte sie vernichtet. Und nun reiste ich also ein drittes Mal, wieder allein und heimlich, ohne Hoffnung auf Erbarmen und Güte, geschweige denn Erlösung von dem Schicksal, das mich erwartete. Ich hatte nicht mehr mitgenommen als etwas Geld, eine Garnitur Kleider zum Wechseln und Edmunds Brief.
Als wir London vor uns sahen, sagte der Bootsmann, ein alter Mann mit einem Gesicht wie ein runzliger Apfel: »Weiter kann ich Euch nicht bringen, Miss. Wir müssen alle Gäste östlich der London Bridge absetzen, wegen der Versammlung in Whitehall.«
»Was für eine Versammlung?«
»Die Musterung, Miss. Jeder Mann aus der Stadt muss heute zum Appell antreten. Der König will seine Truppen inspizieren. Sie haben sich alle um sechs Uhr heute Morgen auf den Feldern zwischen Whitechapel und Mile End versammelt. Es sollen zwanzigtausend Mann sein. Könnt Ihr Euch das vorstellen?«
»Unglaublich«, sagte ich.
Von meinem scheinbaren Interesse ermuntert, rief der Bootsmann: »Der Kaiser wird sein blaues Wunder erleben, wenn er glaubt, er kann mit seinen Papisten, diesen Saukerlen, an unserer Küste landen.« Ein anderer Bootsmann, der ihn hörte, spendete laut Beifall. Zu mir herüberblickend rief er: »So eine Musterung hat’s in London noch nie gegeben. Der König und Cromwell und der ganze Adel kommen nach Whitehall. Die kleinen Leute können sich’s auch anschauen, wenn sie wollen. Und Ihr seid also auf dem Weg nach Whitehall? Ihr wollt wohl den König von England sehen, was?«
»Ja, den würde ich wirklich gern sehen«, antwortete ich, die Hand fest um Edmunds Brief.
Der Bootsmann ruderte mich zu einer Anlagestelle kurz vor der London Bridge, und ich drückte ihm einen Schilling in dieHand, die dauerhaft gekrümmt war von endlosen Jahren an den Rudern.
Nichts hätte einfacher sein können, als den königlichen Palast zu finden. Das ganze Volk schien nach Whitehall zu strömen – Frauen und Kinder und alte Männer, die für die Musterung nicht mehr in Frage kamen. In der Hauptstraße nach Westen drängten sich in den Fenstern der oberen Stockwerke Frauen mit Blumenkörben. Hier führte vermutlich der Weg der Männer nach der Musterung in Whitehall vorbei.
Das Gewirr von Häusern und Kirchen lichtete sich, und ich erreichte ein riesiges freies Feld, über das ein beinahe unüberschaubares Heer von Männern in Richtung einer fernen Gruppe hoher Steingebäude marschierte. Diese Massen waren nicht zu zählen, aber es schien mir durchaus möglich, dass es zwanzigtausend Mann waren.
Mit Erstaunen sah ich, dass die Männer alle von Kopf bis Fuß weiß gekleidet waren. Tausende weißer Mützen schimmerten im Sonnenschein. An alle zur Musterung aufgerufenen Untertanen musste der Befehl ergangen sein, sich am heutigen Tag weiß zu kleiden. Sie hatten sich die Kleider gekauft oder ihre alten Sachen geflickt, gewaschen und gebleicht. Die meisten dieser Leute hatten weiß Gott wenig genug Geld. Doch für ihren König war ihnen offenbar nichts zu teuer. War das blinde Ergebenheit? Oder blanke Furcht? Oder war es Hass auf die feindlichen Eindringlinge?
Die Reihen bewegten sich langsam über das Feld. Ganz vorn krachten Waffen, Rauch stieg über der Menge auf und verflüchtigte sich. Es sah aus, als defilierten die Männer in Gruppen an ihrem König vorbei und präsentierten ihm ihre Waffen.
Die meisten Schaulustigen warteten hier, am Rand des Felds, doch eine Schar dreister junger Frauen wollte mehr sehen. Sie schwenkten seitlich ab und folgten einer Reihe niedriger buschiger Bäume, die sich zum Palast erstreckte. Diese Frauen waren entschlossen, ihren König und seine Berater mit eigenen Augen zu sehen.
Ich rannte ihnen nach.
Die Männer marschierten in dicht geschlossenen Fünfergruppen voran, jeder mit einer Pike, einem Bogen oder auch nur einem langen Messer gerüstet. Mitten im Gewühl konnte ich Pferde erkennen, die mit Munition beladene Karren zogen.
Meine Stirn war schweißfeucht, als ich etwa den halben Weg über das Feld bewältigt hatte. Doch es war mir gleich, wie heiß mir war, wie müde ich mich fühlte. Denn
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