Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
dem Sessel, der für sie ins Zimmer gebracht worden war. Vielleicht lag es an dem stumpfen Licht, das durch das Fenster fiel, aber der funkelnde Glanz, der sie umgeben hatte, war erloschen. Das voluminöse rote Prachtgewand schien den dünnen Körper zu überwältigen. Sie sah alt aus und sehr müde. Schatten lag unter ihren braunen Augen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie mit feiner Wehmut in der Stimme: »Wie alt seid Ihr, Joanna?«
»Siebenundzwanzig.«
Sie lächelte. »Ich hätte Euch für einundzwanzig gehalten. Und was für eine hübsche Figur Ihr habt. Aber Ihr habt natürlich auch keine Kinder zur Welt gebracht. Ja, wir Frauen von spanischem Blut gehören zu den schönsten, aber unsere Schönheit verblüht manchmal schnell.«
»Ihr seid Spanierin?«
»Meine Mutter kam genau wie Eure im Dienst Katharinas von Aragón aus Spanien nach England. Und wie Eure Mutter hat sie einen Engländer geheiratet. Mein Vater ist Baron Mountjoy. Daran müsst Ihr Euch doch erinnern.«
»Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist der Tag Eurer Hochzeit.«
Gertrude wurde wieder etwas lebhafter. »Ja, es war eine prachtvolle Hochzeit, nicht wahr? Genau so, wie ich sie mir gewünscht hatte.«
Meine Erinnerung an den Tag wurde deutlicher. Ich sah wieder das Brautpaar, Henry und Gertrude, jung und strahlend, wie sie am Kirchenportal zusammentrafen, um ihr Ehegelöbnis vor Gott abzulegen. Meine Cousine Margaret und ich streuten Blumen, und aller Augen ruhten auf der entzückenden jungen Margaret, während mich kaum jemand beachtete. Ich grollte nicht. Ich war stolz auf sie.
Aber jetzt war nicht die Zeit für Reminiszenzen. Ich wollte Auskünfte von der Marquise von Exeter.
»Wie kommt es, dass Ihr mich heute beinahe auf den ersten Blick erkannt habt?«, fragte ich. »Wir haben einander viele Jahrenicht gesehen, und damals war ich noch ein Kind. Woher wisst Ihr von Margarets Sohn? Und wer ist ›die Lady‹?«
Gertrude spielte an ihrem Rubinkollier, während sie mich forschend betrachtete, als überlegte sie, wie viel sie mir enthüllen sollte. »Ich bin heute nicht nur nach Dartford gekommen, um die Kirche zu besuchen, sondern vor allem, um Euch ausfindig zu machen. Von Euch und Arthur Bulmer weiß ich durch« – sie senkte ehrfürchtig die Stimme – »Lady Maria.«
Natürlich. Maria Tudor, die älteste Tochter des Königs und seiner ersten Ehefrau Katharina von Aragón. Im vergangenen Winter, als Bruder Edmund und ich im Haus des Herzogs von Norfolk in höchster Gefahr gewesen waren, hatte ich in meiner Not ihre Aufmerksamkeit gesucht, indem ich ihr einfach in den Weg trat und sie mit einem tiefen spanischen Hofknicks und in spanischer Sprache begrüßte. Als sie hörte, dass ich ihre vom Hof verbannte Mutter im letzten Monat ihres Lebens betreut hatte, setzte sie sich sofort für mich ein. Dank ihrer Einflussnahme wurde mein Vater aus dem Tower of London befreit. Seither hatte ich viele Briefe von Maria Tudor erhalten, sowohl vor der Auflösung unseres Klosters als auch danach. Ihre Schreiben bekamen einen besorgten Ton, nachdem ich mich mit Arthur im Dorf niedergelassen hatte, anstatt zu meinen Verwandten auf Stafford Castle zu übersiedeln.
»Ich weiß, dass Lady Maria sich um mich sorgt, aber es war nicht nötig, Euch deswegen eigens nach Dartford zu senden«, sagte ich.
»Nicht nötig? Nach allem, was wir heute hier gesehen haben?«
»Nur mein Eigensinn und mein Stolz waren an dem unglücklichen Zwischenfall in der High Street schuld«, erklärte ich.
Gertrude sprang auf. »Ihr gebt Euch selbst die Schuld?«, rief sie. »Euch ist grausames Unrecht geschehen, Ihr habt Euren Platz im Kloster verloren und müsst Euch hier von gemeinem Volk beleidigen lassen. Was man Euch allen angetan hat, den Brüdern und Schwestern unserer kirchlichen Orden, ist eine schwere Sünde vor Gott.«
Es kam selten vor, dass jemand so offen sprach – noch dazu im Beisein von Bediensteten. Ich versuchte zu erkennen, wie Constance und die Zofe diese Kritik am König aufnahmen, doch ihre Gesichter verrieten nichts.
Gertrude holte mehrmals tief Atem, als ränge sie um Beherrschung.
»Was hat Lady Maria Euch über mich berichtet?«, fragte ich.
»Ich habe durch Briefe, nicht in Gesprächen von Euch gehört«, antwortete Gertrude. »Ich habe sie seit dem Frühjahr nicht mehr gesehen. Sie darf keine Besuche empfangen. Dafür sorgt Cromwell.«
Ich war von Neuem verwirrt. »Aber Lady Maria ist doch mit ihrem Vater, dem König,
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