Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
woher dieses Gefühl zu fliegen?«
»Ihr seid wirklich geflogen. Buckingham hat gemerkt, dass Ihr vor dem Riesen Angst hattet, und da hat man Euch zu seinem Gesicht hinaufgehoben. Aber der Riese war ein einfältiger Kerl und hatte mehr Angst vor Euch als Ihr vor ihm. Ich erinnere mich genau, wie alle lachten. Das war natürlich nicht nett. Ich fürchte, die Gäste hatten alle sehr viel getrunken. Es war der dritte Tag der Weihnachtsfestlichkeiten.«
Nach einer kleinen Pause sagte ich: »Es wundert mich, dass mein Vater mir das angetan hat. Er kannte meine Wesensart und war mir gegenüber immer sehr feinfühlig. Er hätte gewusst, dass es für mich nichts Schlimmeres gibt, als im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.«
»Das war nicht Euer Vater«, sagte Lord Montague. »Ach, Joanna, erinnert Ihr Euch nicht? Das war ich. Ich habe Euch hochgehoben. So hoch es ging.«
Plötzlich war die Erinnerung wieder da, und ich sah vor mir einen jungen dunkelhaarigen Mann von ansprechendem Äußeren, der mich lachend in die Höhe schwang. Jetzt wusste ich, warum ich stets diese Abneigung gegen Baron Montague verspürt hatte.
»Es tut mir so leid, Joanna, dass ich Euch Angst gemacht habe«, sagte der düstere Mann, der jetzt vor mir stand. »Erlaubt Ihr mir, Abbitte zu tun? Wollt Ihr mit mir zum Kamin kommen, damit wir diese Erinnerungen bannen können?«
Gemeinsam gingen wir auf die steinernen Löwen zu. Alles Unheimliche war ihnen jetzt genommen. Sie waren nur noch Löwen mit Fratzen wie die von Wasserspeiern an einer Kathedrale. Ich war tief erleichtert – keine unheilvollen Visionen, sondern schlichte Erinnerungsfetzen. Henry Courtenay allerdings sah ich jetzt mit anderen Augen.
»Sie hätten mir von der Geschichte des Hauses erzählen müssen«, sagte ich zu Lord Montague.
Er antwortete leise wie zuvor: »Bitte, macht Henry keinen Vorwurf. Vielleicht glaubte er, Ihr wüsstet es, und hielt es für besser, das heikle Thema nicht anzusprechen. Vielleicht hat er sich auch geschämt, dass er auf diese Weise vom Unglück Eurer Familieprofitierte. Er hat es schwer genug in diesen Zeiten ständiger gefährlicher Wendungen.«
»Ah, ich sehe, es entwickelt sich alles zum Besten«, erklang eine heitere Frauenstimme, und ich sah Lady Pole mit entschlossenem Schritt und befriedigter Miene auf uns zu kommen.
Gertrude sagte warnend: »Das ist genug. Schweigt jetzt besser.«
Aber Lady Pole lachte nur. »Wozu das falsche Getue? Die beiden sind keine Kinder mehr. Wir sind alle keine Kinder mehr.«
Ich hatte für diese Frau wirklich nichts übrig. »Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte ich.
»Henry Courtenay meint, Ihr würdet eine ausnehmend gute zweite Ehefrau für seinen besten Freund abgeben, und wie es aussieht, ist mein Schwager ganz seiner Meinung.«
Nichts fand ich widerwärtiger als herzlose Scherze, und schon gar nicht schätzte ich es, als Ziel eines solchen Scherzes missbraucht zu werden. Gerade wollte ich Lady Pole eine entsprechende Antwort geben, als mir auffiel, wie unbehaglich plötzlich allen im Saal zumute zu sein schien. Gertrude und Henry starrten Lady Pole wütend an. Sir Edward Neville sah aus, als wünschte er sich dringend an einen anderen Ort. Und Lord Montagues Züge waren starr vor Verlegenheit.
»Das ist unmöglich«, rief ich. »Unmöglich.«
Henry eilte auf mich zu. »Joanna, verzeiht mir. Ich habe dieses Zusammentreffen zwischen Euch und Montague herbeigeführt, um Euch Gelegenheit zu geben, Euch wieder näherzukommen und vielleicht zueinander zu finden.«
Lord Montague trat vor. »Und ich hätte Henry einen solchen Schritt niemals gestatten dürfen. Er wollte mein Glück – und Eures. Aber Ihr hättet unterrichtet werden müssen.« Sein Gesicht zeigte tiefes Bedauern.
»Ja«, sagte ich, peinlich berührt und ärgerlich zugleich. »Ihr habt recht. Ich hätte über vieles in diesem Haus unterrichtet werden müssen.«
An der Tür zum Saal räusperte sich Charles geräuschvoll. »Lord Courtenay, verzeiht, aber unter den Kindern hat es Streitgegeben. Master Arthur will unbedingt mit Miss Stafford sprechen. Es hat mit einem Kind zu tun, das hier zu Gast ist. Master Arthur ist leider nicht zu beruhigen.«
»Das wird mein Sohn gewesen sein«, sagte Lord Montague seufzend.
Ich hob die Hand. »Ich kümmere mich darum.«
»Nein, es ist mein Haus«, widersprach Gertrude. »Ich werde Euch begleiten und für Frieden sorgen.«
»Ich gehe allein«, erklärte ich energisch.
Sobald ich im Flur war,
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