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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Wie schön, dass Sie wieder bei uns sind. Ich weiß, dass ich im Namen aller in Wycliffe spreche, wenn ich Ihnen mein herzliches Beileid für Ihren Verlust bekunde.« Miss Gray bleibt am Kopfende des Tisches stehen, während sie ihre einstudierte Rede abliefert. Erst nach unserem gemurmelten Dank nimmt sie Platz.
    Emily und Hope, die rechts und links von mir sitzen,
weichen meinem Blick aus. Ich war noch nie gut darin, Konversation zu machen, und der Tod ist gewiss kein gutes Gesprächsthema. Ich betrachte eindringlich die Serviette auf meinem Schoß, das schimmernde Silberbesteck neben meinem Teller und die Butter, die auf meinem Toast dahinschmilzt. Alles ist besser, als den unbehaglichen Blicken der Mädchen zu begegnen. Aber die anderen vermeiden sowieso jeglichen Augenkontakt.
    Alle außer einer.
    Nur Luisa Torelli schaut mich offen an und schenkt mir ein kleines Lächeln, das sich selbst über den Tisch hinweg wie eine ehrlich gemeinte Beleidsbekundung anfühlt. Luisa sitzt immer allein; die Plätze neben ihr bleiben stets leer, wenn die Mädchen es einrichten können. Die anderen flüstern hinter vorgehaltener Hand über sie, weil sie Italienerin ist. Aber angesichts ihrer rabenschwarzen Locken, ihrer kirschroten Lippen und der exotisch anmutenden dunklen Augen ist wohl eher Eifersucht der Grund für die Tuschelei. Dass ich mit einem Mal durch den trivialen Umstand, eine Waise zu sein, die ihre beiden Eltern auf so rätselhafte Weise verlor, ebenso zur Außenseiterin geworden bin, spielt für sie offensichtlich keine Rolle. Ganz plötzlich scheint es, als gäbe es mehr, was wir gemeinsam hätten, als was uns trennt, und ich frage mich, ob das Schicksal es will, dass Luisa und ich Freundinnen werden.
     
    Mr Douglas hat einen alten französischen Text aufgetrieben, und wir werden in zwei Gruppen aufgeteilt und zu
seinem Buchladen geschickt, um dort unsere Übersetzungen anzufertigen. Ich hätte gerne kurz mit James unter vier Augen über das rätselhafte Buch gesprochen, aber er ist mit seinem Vater, den anderen Mädchen und Mrs Bacon, unserer Anstandsdame, im hinteren Teil des Ladens beschäftigt.
    Ich brauche nicht lange, um die Absätze, die mir zugewiesen wurden, zu übersetzen, und stehe gerade vor dem Regal neben dem Fenster und überfliege die neue Bücherlieferung aus London, als ich aus einem der anderen Gänge ein geflüstertes Gespräch höre. Ich lehne mich nach hinten, immer noch im Schatten des sich hoch auftürmenden Regals, und sehe, wie Alice mit leiser Stimme auf Victoria einredet. Alice verzieht den Mund zu einer scharfen Linie, was bedeutet, dass sie einen Entschluss gefasst hat, den nichts und niemand mehr ins Wanken bringen kann. Dann schauen sich die beiden um und huschen aus dem Laden, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre.
    Es dauert einen Moment, ehe ich begreife, was sie getan haben. Als mir das Ungeheuerliche bewusst wird, bin ich erleichtert und gekränkt zugleich, dass sie mich nicht in ihr wie auch immer geartetes Vorhaben eingeweiht haben.
    Ich brauche nicht lange, um meinerseits zu einer Entscheidung zu kommen, die mich in große Schwierigkeiten bringen könnte. Wenn uns eine andere Anstandsdame begleiten würde, hätte ich vermutlich zweimal nachgedacht, aber auf Mrs Bacon kann man zählen, zumindest in einer
Hinsicht: Wenn die Schülerinnen von Wycliffe sich in ihrer Obhut befinden, dauert es nicht lange und sie fällt in einen tiefen Schlaf, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet.
    Leise, aber zielstrebig gehe ich zur Tür und tue so, als hätte ich einen guten Grund, um den Buchladen zu verlassen. Ich habe den kalten Türknauf schon in der Hand, als mich ein leises Räuspern hinter mir zusammenfahren lässt.
    »Ä-hem.«
    Kurz schließe ich die Augen und hoffe, es ist James, der meinen Versuch, mich wegzustehlen, vereitelt. Er wird mich ganz sicher nicht verraten. Aber als ich mich umdrehe, lehnt dort Luisa Torelli an einem der Regale und betrachtet mich unter ihren langen tintenschwarzen Wimpern hervor mit einem schelmischen Blick.
    »Willst du irgendwo hin?«, fragt sie mit sanfter Stimme und hebt die Augenbrauen.
    In ihrem Gesicht kann ich keine Bosheit erkennen, nur schlecht verhohlene Erregung und ein Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielt. Wahrscheinlich sollte ich es mir gut überlegen, sie mit in die Sache hineinzuziehen, aber Alice ist schon weg, und ich will sie nicht aus den Augen verlieren, während ich hier stehe und mich nicht entscheiden

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