Die Prophezeiung der Schwestern - 1
sehnte, sie endlich aussprechen zu können.
Sonia lächelt. Obwohl wir uns noch nicht lange kennen, weiß ich, dass dieses sanfte Lächeln ein Zeichen dafür ist, dass sie etwas sagen muss, das nicht leicht zu verstehen ist. »Glaub mir, die Seele ist tatsächlich in der Lage, ohne den Körper zu reisen, und es ist gar nicht so schwer zu erklären und auch nicht schwer, sich daran zu gewöhnen, wenn man es erst einmal begriffen hat.«
Luisa lehnt nicht mehr lässig an der Wand. Jetzt ist es, als bräuchte sie die Wand als Stütze. Ihr Gesicht ist weiß vor Schock. Sie hat alle Proteste und alles Leugnen hinter sich gelassen, denn Sonia hat die Einzelheiten des Reisens zu sorgfältig und eindringlich beschrieben, als dass noch irgendwelche Zweifel bestehen könnten. Wir alle haben es erlebt und wir müssen es als einen Teil der Prophezeiung und ihrer Zeichen akzeptieren.
Luisa richtet sich auf. Auf ihrem Gesicht liegt nackte Angst. »Ich will nie mehr mit den Schwingen reisen! Es ist
doch bestimmt gefährlich - ohne den eigenen Körper zu fliegen! Stellt euch vor, es greift uns jemand an, während wir reisen! Wir könnten sterben!«
Sonias Augen suchen meine durch die Dunkelheit des Stalls, und ich weiß, dass sie an unser Gespräch auf dem Hügel denkt. An den Abgrund. Das leichte Kopfschütteln ist kaum zu erkennen, aber ich sehe es und weiß, dass sie mich davon abhalten will, den Abgrund Luisa gegenüber zu erwähnen. Sie hat auch so schon genug Angst.
Sonia lächelt sie beruhigend an. »Das ist unwahrscheinlich, denn die Seele und der Körper, zu dem sie gehört, werden durch eine starke Verbindung zusammengehalten. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass du dich in Gefahr befindest.«
Ich kann die Worte hören, die Sonia unausgesprochen lässt: Sie sind hinter Lia her.
Luisa reibt sich die Arme, als ob sie erst jetzt die Kälte spürt, die sich in das Gebäude geschlichen hat. Die Bewegung scheint sie aus einer Art Träumerei zu reißen, denn sie strafft die Schultern und sagt: »Du meine Güte! Es wird dunkel! Es muss schon ziemlich spät sein. Ich werde einiges von Miss Gray zu hören bekommen!«
Ich gehe zur Tür. »Tante Virginia wird dir eine Entschuldigung schreiben und erklären, dass es unsere Schuld ist, dass wir dich so lange aufgehalten haben. Selbst Miss Gray kann Tante Virginia nichts übel nehmen. Du wirst sehen.«
Wir schließen die Stalltür hinter uns, und während wir zum Haus zurückgehen, schlinge ich die Arme um meinen
Körper, in dem vergeblichen Versuch, mich zu wärmen. Wir haben in der Stille des Stalls das Gefühl für die Zeit verloren, aber jetzt kann ich sehen, dass es bereits fast Nacht geworden ist. Die Lampen im Haus sind schon angezündet und schimmern uns einladend entgegen, während wir über das kalte, dunkle Anwesen gehen.
An der Veranda, die dem Wintergarten vorgelagert ist, bleiben wir stehen. Wir haben es nicht ausgesprochen, und doch ist uns allen klar, dass das, was wir einander noch sagen wollen, jetzt gesagt werden muss, ehe wir das Haus wieder betreten.
»Was sollen wir tun, Lia?« Verzweiflung schleicht sich in Sonias Stimme. »Wir müssen die Schlüssel finden und wir sind in Bezug auf die Zeilen in dem Buch genauso schlau wie zuvor.«
Ich berühre ihre Arme. »Ich werde eine Möglichkeit finden, euch beide wiederzusehen. In der Zwischenzeit dürfen wir niemandem von dem Buch erzählen, auch nicht von der Prophezeiung und von den Zeichen … Nichts, kein Wort. Obwohl es keinen ersichtlichen Grund gibt, warum wir das alles geheim halten müssten, habe ich doch das untrügliche Gefühl, dass es zwingend nötig ist.«
Luisa schnaubt. »Ich kann dir einen guten Grund sagen: Jeder würde uns für völlig verrückt halten!«
Trotz allem muss ich lachen, und ich ziehe sie in eine kurze Umarmung, ebenso wie Sonia. »Ach, passt auf euch auf! Ich wünschte, ich hätte euch nicht in diese schreckliche Sache mit hineinziehen müssen!«
Sonia lächelt. »Wie immer wir auch in die Prophezeiung geraten sein mögen, es ist schon vor langer Zeit geschehen, Lia. Du hast keine Schuld daran, genauso wenig wie wir. Was auch passieren mag, wir werden es gemeinsam durchstehen.«
Mein Kleid auszuziehen und mich stattdessen in den weichen Stoff meines Nachthemds zu hüllen, ist, als würde ich eine alte Haut abwerfen. Ich seufze laut auf, löse die Nadeln aus meinem Haar und setze mich an den Schreibtisch. Ich starre auf das Blatt Papier und lese die Worte der
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