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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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genaue Bedeutung
nicht erschließt. Es passt genau auf mein Handgelenk. Es wurde mir gegeben. Es ist das Gegenstück zu meinem Zeichen, dem Zeichen, das sich von den anderen beiden unterscheidet. Die einzige Erklärung dafür ist, dass ich mich die ganze Zeit geirrt habe.
    Aber ich bin des Buches und seiner Geheimnisse überdrüssig. Es ist Zeit, mich an die andere Schwester zu wenden.
     
    Ich warte, bis alles im Haus still geworden ist, bis die Schritte der Dienstboten verstummt sind. Dann warte ich noch ein Weilchen länger. Als ich sicher bin, dass alle im Bett liegen, öffne ich die Tür und tapse barfuß durch den Korridor. Denn auch Pantoffeln verursachen Geräusche in einem nächtlichen Haus.
    Leise klopfe ich an Tante Virginias Tür. Kurze Zeit geschieht gar nichts. Das Haus gleitet weiter auf seiner stummen Reise gen Morgen. Ich hebe die Hand, will noch einmal klopfen, da öffnet sich die Tür, und vor mir steht Tante Virginia und schaut mich erwartungsvoll an, als ob sie wusste, dass ich kommen würde.
    »Komm herein, Lia«, flüstert sie. »Schnell.« Sie fasst mich am Arm, zieht mich in die Wärme ihres Zimmers und schließt die Tür.
    »Es tut mir leid. Ich … ich dachte nicht, dass du mich erwartest.«
    Sie dreht mir den Rücken zu, geht quer durchs Zimmer und setzt sich vor dem Kamin in einen Sessel. Dann schaut
sie mich an und bedeutet mir, ihr gegenüber Platz zu nehmen. »Im Gegenteil, Lia. Ich warte schon geraume Zeit auf dich.«
    Ich lasse mich in den Ohrensessel sinken und werfe meiner Tante einen neugierigen Blick zu. Sie sieht anders aus. Statt in einem Knoten am Hinterkopf festgesteckt zu sein, hängt ihr Haar lang und lose über ihrem Nachthemd. Jetzt, da ich hier bin, weiß ich plötzlich nicht mehr, wo ich anfangen soll. Ich bin dankbar, als mir Tante Virginia zuvorkommt.
    »Dann hast du also das Buch gefunden?«
    Ich nicke und betrachte meine Hände, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen.
    Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie traurig lächelt. »Gut. Er wollte, dass du es findest, weißt du?«
    Ich schaue auf. »Vater?«
    »Ja, natürlich. Du dachtest doch nicht, es sei ein Zufall, dass es gefunden wurde, oder? Dass Mr Douglas und James hier sind, um die Bücher zu katalogisieren?«
    »Ich … ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, was ich denken oder glauben soll.«
    »Nun, dann beginnen wir am besten am Anfang, einverstanden?« Ihre bedrückte Stimme sagt mir, dass sie die Geschichte nicht erzählen möchte, schon gar nicht von Anfang an, genauso wenig, wie ich sie hören will.
    Aber es muss sein. Wir müssen irgendwo anfangen. Immerhin können wir ohne den Anfang nicht zum Ende kommen.

    »Ja. Einverstanden.«
    Sie betrachtet mich mit stummer Erwartung. Augenscheinlich muss ich zuerst meine Geheimnisse offenlegen. Und was kann ich schon anderes tun? Die Prophezeiung und die Rolle, die ich darin spiele, wirbeln in meinem Kopf herum. Ohne Hilfe komme ich nicht weiter.
    Und so erzähle ich ihr, was ich weiß, was ich zu wissen glaube, wiederhole meine Gespräche mit Sonia, meine Einschätzung des Buches. Als ich geendet habe, ergreift sie das Wort.
    »Miss Sorrensen hat recht. Die Prophezeiung ist so alt wie die Zeit und setzt sich über die Generationen hinweg fort. Wir sind nur Glieder in einer endlosen Kette«, sagt Tante Virginia.
    »Ich dachte …« Meine Kehle umklammert die Worte und ich muss mich räuspern. »Ich dachte erst, ich sei der Wächter.«
    Sie wendet den Blick ab und schaut ins Feuer. »Ja«, murmelt sie. »Das ist verständlich.«
    Ihre beiläufige Akzeptanz sitzt so schwer auf meiner Brust, dass ich Mühe habe zu atmen. »Dann ist es also wahr«, presse ich hervor, obwohl ich bereits selbst zu dieser Erkenntnis gelangte.
    Ihr Nicken ist kaum wahrnehmbar, als ob ein stummes Eingeständnis leichter zu ertragen wäre, weniger schmerzhaft als ein in Worte gefasstes.
    Der Zorn, der mich im Fahrwasser von Tante Virginias Bestätigung packt, kommt überraschend für mich.
Ich springe auf und durchmesse das Zimmer mit langen Schritten, weil ich befürchte, aus der Haut zu fahren, wenn ich still sitzen muss. »Aber warum? Warum muss ich es sein?«
    Sie seufzt und eine Welt von Traurigkeit löst sich mit ihrem sanften Atem aus ihrem Körper. »Weil du die Ältere bist, Lia. Es ist immer die ältere Schwester.«
    Ich bleibe entgeistert stehen. Das ist alles? Die Erklärung für die Fesseln, die mich an diesen Teil der Prophezeiung binden, ist so simpel, so willkürlich?

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