Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Nur das Glucken der Hühner ist zu hören. Was sollen wir jetzt machen? Luisa hebt gerade entschlossen die Hand, um noch einmal anzuklopfen, als wir hinter unseren Rücken eine Stimme hören.
»Ja hallo! Ihr müsst die jungen Damen sein, von denen mir Sylvia erzählt hat!«
Wir drehen uns um und sehen einen kleinen Mann in Tweedhosen und einem nur halb zugeknöpften Hemd vor uns stehen. Sein kahler Kopf glänzt in der Sonne. Ich kann seinen Zungenschlag nicht genau einordnen, vermute aber, dass es ein schottischer oder irischer Akzent ist, der schon vor langer Zeit mit dem amerikanischen eine Verbindung einging.
»Was ist los? Hat euch die Katze die Zunge abgebissen, hm?« Er kommt auf uns zu. »Alastair Wigan, zu euren Diensten. Sylvia sagte mir, ihr würdet kommen.« Er scheint froh, uns zu sehen, als ob wir alte Freunde wären, und es dauert eine Weile, bis mir dämmert, dass ich keine Ahnung habe, wer diese Sylvia ist.
»Guten Tag, Mr Wigan. Mein Name ist Lia Milthorpe, und das sind meine Freundinnen Sonia Sorrensen und Luisa Torelli, und unser Kutscher Edmund.« Allseits werden
Hände geschüttelt und Begrüßungen gemurmelt. »Aber ich fürchte, wir kennen keine Sylvia…«
Sein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln und in seine Augen stiehlt sich ein diabolisches Funkeln. »Aber natürlich tut ihr das! Sylvia Berrier, dieses herrliche Weib aus der Stadt.«
Seine Ausdrucksweise lässt Sonia erröten. Ich kämpfe mit einem Lächeln, während Luisa hustet und dabei ein Kichern nicht unterdrücken kann.
»Jetzt finde ich es umso bedauerlicher, dass ich Madame Berrier nicht persönlich kennenlernen durfte«, sagt Luisa grinsend. »Sie hört sich sehr interessant an.«
»Interessant, in der Tat!« Mr Wigan nickt wissend und seine Augen richten sich schwärmerisch in die Ferne. Dann klatscht er in die Hände, als würde er sich plötzlich wieder an uns erinnern. »Aber, aber! Ich kann euch doch nicht wie ein paar Landstreicher vor der Tür stehen lassen! Nicht, wenn ihr Freundinnen von Sylvia Berrier seid!«
Er geht zur Veranda. »Kommt mit. Ich mache uns Tee. Ich experimentiere gerade mit einer neuen Blattsorte aus dem Garten, wisst ihr, und es kommt nicht oft vor, dass ich die Möglichkeit habe, meinen Tee jemand anderem außer Algernon anzubieten.«
Ich schaue mich suchend um. »Algernon?«
Mr Wigan wedelt mit der Hand in Richtung des Verschlags. »Ja, ja.« Er hält uns die Tür auf und wir gehen, einer nach dem anderen, hinein.
Ich werfe noch einmal einen Blick nach draußen. Aber
da ist niemand außer den Hühnern und der Ziege. Oh … oh je.
»Algernon… ist das die Ziege?«, frage ich. »Aber natürlich!« Mr Wigan steuert auf ein anderes Zimmer zu, und seine Stimme wird leiser, je weiter er sich durch das kleine Haus bewegt.
Luisa und ich wechseln einen belustigten Blick. Mir ist klar, dass sie die Situation zu komisch findet. Meine Augen gewöhnen sich an das dämmrige Licht im Haus. Und dann bin ich sprachlos angesichts der Merkwürdigkeiten, die beinahe jede Fläche für sich beanspruchen.
Steine und Federn besprenkeln die Bücherregale, die völlig verstaubt sind und bis zum Bersten mit Büchern gefüllt. Knorrige und verdrehte Wurzeln liegen neben unheimlich aussehenden Puppen, während uns eine ganze Anzahl fremdartiger Skelette angafft. In einigen der Augenhöhlen funkelt der Schein des Feuers. Ich glaube, den walnussgroßen Schädel eines Eichhörnchens zu erkennen, und möglicherweise ist das, was dort als Buchstütze auf dem Kaminsims liegt, ein menschlicher Schädel. Ich erschauere, obwohl es in diesem Zimmer recht warm ist.
Edmund lehnt an der Wand neben der Tür. Er betrachtet das Zimmer methodisch, als ob er sich alle Einzelheiten einprägen will, für den Fall, dass sie ihm in der Zukunft noch einmal nützlich sein könnten. Die störrische Haltung seiner Kiefer macht mir klar, dass er nicht die Absicht hat, uns in diesem seltsamen Haus allein zu lassen, und um die Wahrheit zu sagen, empfinde ich seine Gegenwart als
Beruhigung. Es ist unzweifelhaft ein selbstsüchtiges Gefühl, aber ich bin sehr froh, dass er hier ist.
»Da wären wir also!« Mr Wigan tritt mit einem Blechtablett in den Händen ein. Er schaut sich in dem überfüllten Raum nach einem Platz um, wo er das Tablett absetzen kann. »Ach Gott!«
Sonia tritt rasch vor. »Soll ich die Bücher von diesem Tisch wegräumen?« Sie deutet auf einen hohen Stapel aus dicken Folianten, unter dem möglicherweise ein Tisch
Weitere Kostenlose Bücher