Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Möglichkeit.«
»Aber selbst wenn es mir gelingt, deinen Vater anzurufen, so ist es den Geistern doch nicht möglich, in die Geschehnisse der Welt, die sie hinter sich gelassen haben, einzugreifen. Sie können uns über die Anderswelten erzählen und von Dingen sprechen, die waren, bevor sie starben, aber sie können nichts in unserer Welt sehen, was nach ihrem Tod geschah.«
Sie schweigt und presst fest die Lippen zusammen, während sie nach den richtigen Worten sucht. »Wenn eine Seele in die nächste Welt übergegangen ist, dann ist es, als… als ob ein Vorhang zwischen dieser Seele und uns niederfällt. Manchmal ist er so dünn, dass wir mit der Seele Kontakt aufnehmen können, aber dein Vater hat nicht die Macht, uns von Dingen zu erzählen, die sich nach seinem Tod ereigneten.«
Es wäre eine Lüge zu behaupten, ich sei nicht enttäuscht. Ich habe auf eine schnelle und einfache Antwort bezüglich des Verstecks der Liste gehofft. Aber trotzdem heißt das nicht, dass uns Vater nicht helfen kann. »Immerhin könnte er uns sagen, wo er die Liste vor seinem Tod versteckte.«
Sonia nickt. »Ich glaube schon.«
Hoffnung, so leicht wie eine Feder, macht sich in meinem Herzen breit. »Vielleicht ist sie immer noch dort. Es ist doch einen Versuch wert, nicht wahr? Es wäre ein Anfang!«
Sonia nickt wieder und schaut mir in die Augen. »Also schön. Versuchen wir es.«
Ohne ein weiteres Wort setzen wir uns in einem kleinen Kreis vor dem Feuer auf den Boden. Dann fassen wir uns an den Händen, so rasch, als ob diese Geste allein schon ausreichen würde, um uns vor allem zu beschützen, was uns jenseits dieser Welt bedroht. Ich erinnere mich an jene erste Seance im Wohnzimmer von Mrs Millburn. Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, und es kommt mir unfassbar vor, dass wir nun gemeinsam in Birchwood sitzen,
wieder in einem Kreis, allerdings ohne Alice. Diesmal ist es kein Spiel. Diesmal sitzt uns die Gefahr im Nacken.
Sonia schließt die Augen. Ich schaue Luisa an. Die unglaublich langen Wimpern ihrer geschlossenen Lider werfen Schatten auf ihre elegant geschwungenen Wangenknochen. Dann tue ich es meinen beiden Freundinnen gleich. Ich schließe die Augen, warte und lausche auf Sonias sanftes Ein- und Ausatmen. Als nichts passiert, mache ich die Augen wieder auf und sehe, dass Sonia mich anschaut.
»Stimmt etwas nicht?«, frage ich.
Sie schluckt so hart, dass die zarte Haut an ihrer Kehle Falten schlägt. »Es ist nur…« Sie lacht nervös. »Ich habe plötzlich Angst bekommen. Wirst du auf mich aufpassen? Wenn etwas passiert, etwas, das dir nicht richtig vorkommt, musst du den Kreis aufbrechen und mich aus meiner Trance holen. Wirst du das tun?«
Ich weiß, wovon sie spricht. Auch ich habe dieses dunkle Ding gespürt. Ich habe das Pochen der Seelen gehört, habe ihren feurigen Atem gefühlt. »Wir werden wachsam sein, Sonia. Ich verspreche es.«
Sie nickt und schließt trotz ihrer Furcht wieder die Augen.
Eine Zeit lang geschieht nichts. Ich gleite in einen Zustand, der fast einer Hypnose gleichkommt, geleitet von dem Knistern des Feuers und der Stille, die ansonsten im Zimmer herrscht. Ich habe schon die Hoffnung aufgegeben - als ich ihn plötzlich rieche. Ich kann ihn riechen! Es ist der schwache Duft von Vaters Pfeife, die Wolle seiner
Lieblingsjacke, die leicht nach dem Zedernholz duftet, mit dem die Schränke bestückt sind.
Sonias Stimme durchbricht das Schweigen. »Sind Sie Thomas Milthorpe? Vater von Lia, Alice und Henry?« Sie schweigt kurz und spricht dann flüsternd weiter. »Ja, ja. Wir werden leise sein.«
Ihre Augen öffnen sich. Eine ungewöhnliche Schärfe hat sich darin niedergelassen. Das Blau ist strahlender, der schwarze Kreis um die Pupille deutlicher sichtbar. Eine merkwürdige pulsierende Energie, die man fast hören kann, erfüllt das Zimmer. Sie wärmt und überwältigt mich zugleich, und ich muss gegen den Drang ankämpfen, mir die Ohren zuzuhalten, als ob ich dadurch den Strom, der sich von einem unbekannten Ort aus zu uns ergießt, aufhalten könnte.
»Bevor Lia mit dir Kontakt aufnimmt, Geist, musst du beweisen, dass du der bist, für den du dich ausgibst. Sprich zu Lia von etwas, das nur sie wissen kann. Etwas, das deine Identität bekräftigt.«
Ich wundere mich über dieses Ansinnen, frage mich, welchen Grund Sonia dafür haben könnte. Ich warte darauf, dass sie uns die Antwort meines Vaters verkündet, als ich plötzlich dort, wo meine Handfläche Sonias berührt, ein
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