Die Prophezeiung der Schwestern - 1
es ist mit einem Mal sehr beängstigend zu erkennen, in welcher Situation man sich befindet.«
Ich schaue ihr in die Augen und lächle sie an. »Das verstehe ich. Aber es gemeinsam zu versuchen ist besser als allein, nicht wahr?« Sie nickt und erwidert mein Lächeln. Ich stehe auf, gehe zum Kamin und wende mich dann ihnen zu. »Also gut. Es ist Zeit für unseren nächsten Zug. Zeit, die anderen Schlüssel zu finden.«
Sonia schaut ratlos drein. »Aber wie? Es sind insgesamt vier, nicht wahr? Außer Luisa und mir gehören noch zwei weitere dazu.«
»Das stimmt. Aber wir müssen nicht ganz von vorne anfangen, wenn wir bloß diese Liste finden können.«
Die Verwirrung steht Luisa ins Gesicht geschrieben. »Welche Liste?«
»Die Liste mit Namen, die mein Vater zusammengestellt hat. Wisst ihr noch? Tante Virginia erzählte mir doch, dass er nach Kindern suchte, dass er eine Liste mit Namen und Orten aufgestellt hatte. Ich habe es vorher nicht begriffen, es schien mir reiner Zufall, dass er euch fand. Aber jetzt ergibt das alles einen Sinn. Wenn jene vier Personen - die Schlüssel - in der Nähe von Avebury geboren wurden, um Mitternacht am ersten November desselben Jahres, dann kann es nicht besonders schwierig sein, vier Mädchen zu finden, die das Zeichen tragen. Ihr beide steht sicherlich auf dieser Liste, und wenn das so ist, dann stehen noch andere drauf. Wenn wir die Liste aufspüren, bevor Alice es tut, können wir versuchen, die anderen Schlüssel ausfindig zu machen.«
Sonia erhebt sich mit einem Ruck und drückt frustriert ihre Finger gegen die Stirn. »Aber selbst wenn wir alle Schlüssel beisammen haben, wissen wir immer noch nicht, wie wir die Prophezeiung beenden können!«
Ich fange Luisas Blick ein. Wir sind es gewohnt, dass Sonia stets die Ruhe bewahrt. Keine von uns weiß, wie wir mit diesem unerwarteten Verzweiflungsausbruch umgehen sollen.
Ich habe keine andere Wahl, als die Wahrheit auszusprechen. »Ich weiß, dass einen diese Angelegenheit in
den Wahnsinn treiben kann. Wirklich, das könnt ihr mir glauben. Aber mein Vater brauchte fast zehn Jahre, um so weit zu kommen, wie er kam, und dank ihm steht uns jetzt vielleicht eine Möglichkeit offen, die anderen Schlüssel zu finden, ohne wieder von vorne anzufangen. Wir brauchen diese Liste, und zwar bald, denn in Alices Händen würde sie zu einer Gefahr werden. Vielleicht wird sich der Rest von selbst ergeben, oder vielleicht entdecken wir einen Weg, wie wir weitermachen müssen, genauso wie wir die bisherigen Hinweise entdeckt haben.«
Sonia lässt sich auf das Sofa fallen und legt wortlos den Kopf in die Hände.
»Also schön, Lia.« Luisas Stimme klingt ruhig. Ich bin froh, dass das Leuchten in ihre Augen zurückgekehrt ist. »Wo sollen wir anfangen? Wo könnte die Liste versteckt sein?«
»Genau darüber habe ich nachgedacht. Es gibt nur eine Person, eine einzige Person, die über die Prophezeiung besser Bescheid weiß als wir.«
Sonia schaut auf. »Wer?«
»Mein Vater.«
Luisa, die immer noch auf der anderen Seite des Zimmers an der Wand lehnt, fängt an zu stottern. »Aber Lia … dein Vater… ich meine…«
»Ich weiß sehr wohl, dass mein Vater tot ist, Luisa. Aber ganz zufällig ist Sonia in der Lage, mit den Toten zu sprechen, nicht wahr, Sonia?«
Ihr Gesicht, so glatt wie Alabaster im Feuerschein, zeigt keine Regung. »Nun ja. Manchmal.« Sie erhebt sich,
kommt auf mich zu und schaut mir in die Augen. »Aber nicht immer. Ich habe keine Kontrolle darüber, wer zu mir kommt und wer nicht. Ich weiß nie im Voraus, welche Botschaften von jener Welt in diese kommen. Wenn ich meinen Kunden sage, dass ich mich nach dem Willen der Geister richten muss, dann spreche ich die Wahrheit. Denn genauso ist es.«
»Ja, aber du könntest es versuchen, oder? Du könntest versuchen, ihn … anzurufen. Ihn zu uns zu bringen. Oder nicht?«
Ihre Antwort kommt zögerlicher und mit deutlich weniger Begeisterung, als ich erwartete. »Vermutlich. Aber was ist mit deiner Tante Virginia? Du sagtest, sie sei selbst ein Wächter gewesen. Können wir nicht einfach sie fragen?«
»Mein Vater hielt alles geheim. Sie weiß, dass diese Liste existiert, aber nicht, wo sie versteckt ist. Und sie kennt nur einen Teil der Prophezeiung. Nur den Teil, in dem sie und meine Mutter eine Rolle spielten. Und Alice wird uns gewiss nicht an ihrem Wissen teilhaben lassen.« Ich schüttele den Kopf. »Nein. Wir müssen mit meinem Vater sprechen. Das ist die einzige
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