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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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selbst.
    Nicht einmal den Seelen.
    Alice macht sich mein Schweigen zunutze und will mich mit der sanften und liebreizenden Stimme der Schwester umgarnen, die ich früher kannte. »Du machst dir alles nur unnötig schwer, Lia. Samael wird am Ende doch obsiegen.
Er wird siegen, ob du ihn nun mit offenen Armen empfängst oder ob er sich seinen Weg durch dich erzwingen muss. Du hast einer solchen Macht nichts entgegenzusetzen. Willst du nicht den leichteren Weg wählen? Das Ende ist vorherbestimmt, also was macht es schon aus?«
    Was macht es schon aus? Die Worte hallen auf den grauen, öden Feldern wider.
    Ich sehe meine Mutter vor mir, die all jene, die sie liebte, zurückließ, um sich von dem Erbe, das ihr aufgebürdet worden war, zu befreien. Ich sehe die Schwestern, die nach uns kommen werden, meine Töchter und die Töchter von Alice. Ich sehe Tante Virginia, die Alice und mich aufzog und all die Jahre über uns wachte. Die uns beobachtete und versuchte herauszufinden, wer der Wächter und wer das Tor sein würde. Diese Gedanken durchzucken mich wie ein Blitz, bis nichts mehr bleibt außer dem klagenden Heulen des Windes.
    »Nein.« Ich kann das Wort selbst kaum vernehmen, so leise spreche ich es aus. Alice muss sich vorbeugen, doch ihr verblassendes Lächeln ist der Beweis dafür, dass sie mich sehr wohl verstanden hat.
    »Was hast du gesagt, Lia?« Sie will mir noch eine Möglichkeit geben, eine Chance, vorzutäuschen, dass ich es nicht aussprach, die Gelegenheit, mich anders zu entscheiden.
    »Ich sagte Nein. Ich habe die Wahl und ich habe sie getroffen. Ich werde dem ein Ende bereiten. Ein für alle Mal.«
    Sie steht starr da und funkelt mich an. Dann kehrt das
tückische Lächeln auf ihre Lippen zurück. »Und wie willst du das anstellen, Lia? Selbst wenn du dich opferst, wie es unsere liebe Mutter tat, wird alles weitergehen, immer weiter, von Mutter zu Tochter und von Schwester zu Schwester. Nein, die einzige Möglichkeit ist, den Seelen nachzugeben. Sie sind sehr geduldig, weißt du?«
    Wieder höre ich Tante Virginias Worte. Samael wird deine Schwächen gnadenlos ausnutzen. Er wird dir im Schlaf auflauern. Er wird diejenigen, die du am meisten liebst, benutzen, um dich zu Fall zu bringen.
    Ich straffe die Schultern. »Lieber würde ich sterben.« Ich bin selbst von meiner Entschlossenheit überrascht. Überrascht davon, dass ich meine Worte ernst meine.
    Alice beugt sich noch näher, so nah, dass ich ihren warmen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. »Es gibt Schlimmeres als den Tod, Lia. Ich dachte, das wüsstest du.«
    Sie richtet sich wieder auf und starrt mich an. Und da höre ich sie.
    Brausend kommen sie über den Himmelspfad, erst wie ein weit entfernter Donner, doch schon bald wie das entsetzliche Hämmern tausender Hufe, die alle auf die Stelle zurasen, wo Alice und ich stehen. Ich schaue nach oben. Der Himmel ist schwarz geworden. Der Wind, der uns zuvor nur mit einem unheimlichen Stöhnen umwehte, ist zu einem brüllenden Monster angewachsen, peitscht uns die Haare ins Gesicht, sodass wir die Strähnen festhalten müssen, um überhaupt etwas zu sehen.
    »Du magst der Engel sein, Lia, aber ich kann die Seelen
nach Belieben anrufen. Sie wissen, welche Schwester der Prophezeiung treu ergeben ist. Sie kommen zu mir, denn ich bin das wahre Tor.« Ihre Stimme erhebt sich triumphierend über das Heulen des Windes. »Wir werden unsere Kräfte vereinigen, die Seelen und ich, so lange, bis wir unser Ziel erreicht haben. Ich wünschte, es wäre anders, Lia. Aber du hast deine Entscheidung getroffen und jetzt muss ich meine treffen.«
    Während die Seelen über den Himmel herangestürmt kommen, hält es ein kleiner Teil von mir immer noch für unmöglich, dass sie mir Schaden zufügen können, glaubt sich beschützt, wie das letzte Mal. Aber meine Hilflosigkeit ist offensichtlich. Ich kann mich nicht rühren. Es fühlt sich an, als sei die Verbindung zu meinem Körper durchtrennt worden. Ich bin verloren in den düsteren Anderswelten.
    So muss es sein, wenn man hier gefangen ist. Wenn man von seinem eigenen Körper getrennt ist. Wenn man in den Abgrund stürzt. Die Gedanken kommen zu mir, ausgesandt von einem letzten Rest von Vernunft.
    Die Schwärze über mir vertieft sich, wird dichter und wirbelt, bis ich das Gefühl habe, davon aufgesaugt zu werden. Alle Kraft strömt aus meinem Sein. Ich will zu Boden sinken und schlafen, nur schlafen. Langsam gleite ich in eine verführerische Trägheit.
    »Lia!«

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