Die Prophezeiung der Schwestern - 1
versuchte, mich zu beschützen, auf denjenigen, der sich solche Mühe gab, um meine Sicherheit zu garantieren.
»War meine Mutter tatsächlich in der Lage, einen solchen Zauber zu wirken?«
»Sie ist die Einzige, die sowohl über die Macht verfügte
als auch über die Gewissheit, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte.« Tante Virginia zieht etwas aus der Tasche ihres Morgenmantels und streckt es mir entgegen. »Ich habe das lange für dich aufbewahrt. Sie schrieb es, bevor sie … bevor sie starb. Vielleicht hätte ich es dir eher geben sollen. Vielleicht hätte ich dir schon früher von der Prophezeiung erzählen sollen. Ich wollte einfach warten, bis du alt genug bist, klug genug, damit die Wahrheit dich stärken würde, statt dich zu vernichten, wie es ihr widerfahren ist.«
Ein zynisches Lachen entschlüpft meiner Kehle. »Ich fühle mich kein bisschen klug, Tante Virginia. Und auch nicht stark.«
Sie streckt die Arme aus und zieht mich an sich. »Du bist klüger, als du glaubst, Liebes. Und stärker, als du weißt.« Noch einmal schaut sie auf den zerstörten Schutzzauber. »Ich bin keine Zauberin, Lia. Und selbst wenn ich es wäre, wäre es mir nicht gestattet, den Kreis wiederherzustellen.«
»Aber wie hat meine Mutter… Warte mal«, sage ich, weil mir etwas einfällt. »Du sagtest, es handele sich um verbotene Magie.«
Tante Virginia nickt. Ihr Gesicht im Feuerschein ist ernst.
»Wer hat ihr verboten, die Macht zu benutzen, die ihr gegeben war, während ich Tag für Tag förmlich dazu gedrängt werde, die Macht anzuwenden, die ich nicht haben will?«
Sie lässt sich auf der Bettkante nieder. »In den Anderswelten
gibt es eine Art Rechtssystem, das die Balance aufrechterhält, genauso wie in unserer Welt. Seine Regeln mögen jenen, die nicht mit den einzigartigen Aspekten dieser Welt vertraut sind, merkwürdig vorkommen, aber es sind nichtsdestotrotz gültige Regeln. Sie wurden von den Grigori aufgesetzt.«
»Den Grigori?« Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.
»Die Grigori sind ein Rat, der aus Engeln aus der Zeit von Maari und Katla besteht, Engeln, die nicht gefallen sind. Jetzt regieren sie über die Anderswelten und sorgen dafür, dass jede Kreatur und jede Seele eine Reihe von Gesetzen befolgt, die vor Urzeiten beschlossen wurden. Die Magie der Anderswelten irgendwo außerhalb einzusetzen, zieht eine Strafe nach sich, aber ich glaube, deine Mutter hatte das Gefühl, dass dieses Verbot keine Rolle mehr spielte, als sie den Schutzzauber herstellte.«
»Aber wenn meine Mutter bestraft worden wäre, weil sie einen Zauber gewirkt hat, können wir dann nicht auch Alice zur Rechenschaft ziehen, weil sie ihn zerstörte?«
Tante Virginia seufzt. »Ich fürchte nicht. Wie auch in unserer Welt gibt es Möglichkeiten, die Regeln zu beugen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Tante Virginia schaut mich an. »Alice hat keinen eigenen Zauber gewirkt, Lia. Sie hat lediglich die Wirkung eines Zaubers, den deine Mutter vor langer Zeit gewoben hat, zunichte gemacht. Und das war ein Zauber, der an sich schon verboten war.«
Abrupt stehe ich auf. Frustration macht sich in mir breit und meine Stimme klingt laut durch das Zimmer. »Also gibt es gar nichts, was wir tun können, um sie aufzuhalten? Sie zu bestrafen, weil sie mich in Gefahr bringt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, nein. Diesmal nicht. Es scheint so, als hätte Alice bereits aus irgendeiner Quelle das ganze Ausmaß ihrer Macht erfahren und nutzt sie nun geschickt innerhalb der Grenzen, die die Grigori festlegten. Für den Moment können wir nur hoffen, dass sie auf ihrem Weg ins Straucheln gerät.« Sie seufzt. »Wir können tatsächlich nichts tun.«
Ich starre ins Feuer. In meinem Kopf schwirren die Gedanken über diese neue, ungeliebte Gewissheit:
Alice hat alle Karten in der Hand.
Alice hat Kräfte, die ich nicht besitze.
Und am Allerschlimmsten: Alice weiß, wie sie ihre Kraft für ihre Zwecke einsetzen muss, wie sie mich vernichten kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
»Es tut mir leid, Lia, aber wir werden das gemeinsam durchstehen. Das verspreche ich dir. Immer einen Schritt nach dem anderen.« Sie steht auf und wendet sich zum Gehen. »Luisa und Sonia sind schon beim Frühstück. Ich habe es so arrangiert, dass ich heute mit Alice in die Stadt fahre, damit ihr ungestört nach der Liste suchen könnt.«
Ich schaue zu ihr auf und fühle die Last der Aufgaben, die mich
Weitere Kostenlose Bücher