Die Prophezeiung der Schwestern - 1
seine Armee sorgt dafür, dass die Schwächeren unter uns sich seinem Willen fügen. In allen Winkeln und Ecken gibt es Spione. Wir haben Verbündete… jene, die uns helfen, wenn es ihnen möglich ist, aber nichts wird die Seelen lange aufhalten können. Du bist hier nicht sicher, und wir auch nicht.«
Ich hole tief Atem. »Dann müssen wir uns beeilen. Sag
mir, wo die Liste ist, Vater, damit ich die beiden anderen Schlüssel finden kann.«
Er beugt sich vor, bringt seine Lippen dicht an mein Ohr und flüstert: »Ich habe sie in der Obhut meiner Liebsten gelassen. In meinem Zimmer.«
Ich bemühe mich, seine Worte zu entschlüsseln, denke an unsere Suche in seinem Gemach. »Aber ich habe…«
Da hebt er die Hand, als ob er mich davon abhalten wollte weiterzusprechen. Er legt den Finger an die Lippen und schaut sich um. Ich verstehe die Bedeutung; möglicherweise spioniert man uns nach, auch in diesem Moment.
Ich schüttele leicht den Kopf, will ihm sagen, dass die Liste nicht da ist. Dass ich überall gesucht, aber nichts gefunden habe.
Aber er nickt bestimmt, als wolle er mir zu verstehen geben: Ja, sie ist da. Du musst nur richtig suchen .
Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen: Ich habe sie in der Obhut meiner Liebsten gelassen. In meinem Zimmer.
Das Bild taucht ganz plötzlich vor meinem geistigen Auge auf, so klar und deutlich, als wäre es immer da gewesen. Ich schaue ihm in die Augen und nicke leicht, spüre, wie mich ein willkommener Hoffnungsschimmer durchzuckt.
Er schaut erneut auf in den dunkler werdenden Himmel, der Schatten auf uns wirft, die eben noch nicht da waren. »Wir müssen gehen, Lia. Unsere Zeit neigt sich dem Ende zu.«
Meine Brust wird eng bei dem Gedanken, sie zu verlassen. Gegen meinen Willen habe ich mich an die Verantwortung, die meine Rolle innerhalb der Prophezeiung mit sich bringt, gewöhnt. Ich habe mich daran gewöhnt, ohne Vaters ermutigende Umarmung auszukommen, ohne seine stützende Hand. Aber wieder mit meinen Eltern vereint zu sein, und sei es nur für einen Moment, führt mir vor Augen, was ich verloren habe.
»Ich will nicht gehen. Ich will bei euch bleiben.« Ich schäme mich nicht, auch wenn ich mich wie ein jämmerliches kleines Kind benehme.
Meine Mutter tritt vor und umarmt mich. »Lia.« Ihr Atem bläst mir sanft ins Haar und ich rieche den Duft von Jasmin auf ihrem Nacken. »Es tut mir leid, dass ich dir das aufbürden musste. Aber du bist der Engel, die eine Schwester, die die Prophezeiung für immer beenden kann. Und es ist so vorherbestimmt, egal wie sehr wir uns wünschen, dass es nicht so wäre. Du warst es schon immer, seit Anbeginn der Zeiten. Es gibt keine Fehler, Lia. Niemals. Seit Jahrhunderten warten die Schwestern nur auf dich.«
Ich will ihr widersprechen, auch jetzt noch, nach allem, was ich erlebt habe. Aber in ihren Worten liegt Wahrheit. Und so nicke ich nur und starre ihr in die Augen, die jenen, die ich jeden Morgen beim Blick in den Spiegel sehe, so ähnlich sind. Ich nicke, damit sie weiß, dass ich verstanden habe. Dass ich meine Aufgabe annehme, die Aufgabe, die sie auf mich übertrug. Dass ich keine Angst habe.
Vater schaut immer wieder in den Himmel. Noch ist er
blau, aber der kalte Wind ist zurückgekehrt und mit ihm die vage Ahnung von Gefahr.
Bedauernd sieht er mich an. »Wir müssen uns verabschieden.«
Ich hebe das Kinn. »Ja.«
Es ist zwecklos, mich an sie klammern zu wollen. Schon jetzt ist ihr Äußeres schwächer geworden, durchscheinender, als noch vor ein paar Augenblicken.
Meine Mutter nimmt mich ein letztes Mal in die Arme. »Ich wusste, dass du es bist, von Anfang an, aber ich sah in deinen Augen etwas, das mir Hoffnung gab. Es tut mir nur leid, dass ich nicht stark genug war, um für dich zu kämpfen.«
Ich lächle sie tapfer an. »Nein, Mutter. Du weißt doch: Es gibt keine Fehler.«
Unter Tränen erwidert sie mein Lächeln, beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. »Keine Fehler, mein Engel.« Sie wenden sich zum Gehen, hastiger, als ich es mir wünschen würde. Mutter dreht sich noch einmal zu mir um. Ihr Gesicht ist dunkel vor Sorge. »Pass auf Henry auf, Lia. Tust du das?«
Sie wartet nicht auf meine Antwort, aber ich nicke und rufe ihnen nach: »Ich liebe euch. Ich liebe euch beide.«
Zu mehr bleibt mir keine Zeit. Dann sind sie fort.
Mein Innerstes ist aufgewühlt, während ich zurück nach Birchwood reise. Ich empfinde große Trauer über die Trennung von meinen Eltern, aber auch
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