Die Prophezeiung der Seraphim
Weg entlang und nahmen nach und nach die Plätze auf den ansteigenden Steinstufen ein. Neben der Arena brannte ein großes Feuer, wo einige Zigeuner laut und ausgelassen aufspielten, während Kinder und junge Leute sich im Schein der Flammen dazu drehten. Julie hielt Ausschau nach dem Kalokardos, entdeckte es aber nirgendwo.
Javier berührte ihren Arm. »Komm, wir sind als Erste dran, setz dein schönstes Lächeln auf!«
Julies Auftritt war vorüber, und zum ersten Mal, seit Gabrielle und Jacques gestorben waren, fühlte sie sich glücklich, ja, geradezu berauscht. Wie die Zuschauer gejubelt und geklatscht hatten, wie sie den Atem angehalten hatten, wenn die Klingen ihren Körper nur um Haaresbreite verfehlten!
Begeistert knuffte sie Javier, der ihr so kräftig auf die Schulter klopfte, dass sie beinahe einknickte. »Gut gemacht, Küken! Wir haben uns eine Kanne Wein verdient«, sagte er und verschwand in Richtung der Zelte. Julie sah sich weiter die Vorstellung an. Fédéric spie gerade glühende Wolken und bei jedem Flammenstoß duckte sich das Publikum.
Ich freue mich, dass es dir gut geht , erklang Songes Stimme. Julie sah sich um und entdeckte ihre Katze in den Zweigen eines Apfelbaums. Sie hatte sich auf einem dicken Ast ausgestreckt und ihre Augen leuchteten wie zwei kleine Monde.
Heute will ich nicht daran denken, was morgen sein wird.
Ihr Menschen braucht das manchmal.
Aber bin ich denn ein Mensch?, gab Julie zurück.
Du siehst wie einer aus und du fühlst wie einer, also wo ist der Unterschied? Songe haschte nach einer Motte, die an ihrer Schnauze vorüberflog. Dann kann ich mir heute Abend freinehmen, denke ich.
Ach ja? Was hast du denn vor? Julie war belustigt.
Das geht dich eigentlich nichts an, entgegnete Songe. Aber es hat mit einem prächtigen, grauen Kater zu tun, der auf der Stadtmauer herumstreift.
Noch bevor sich die Worte ganz in Julies Geist geformt hatten, war Songe verschwunden, nur der Ast, auf dem sie gesessen hatte, wippte noch leicht.
Julie lächelte in sich hinein. Dann entdeckte sie ganz in ihrer Nähe Ruben. Sie trat zu ihm und zupfte ihn am Ärmel. »Können wir miteinander reden?«
Er zuckte mit den Schultern und machte ein gleichgültiges Gesicht, folgte ihr aber zu einem ruhigeren Platz etwas abseits der Arena, wo die Fideln und Maultrommeln leiser klangen. Dort lehnte er sich mit verschränkten Armen an eine Mauer, sein Gesicht verschlossen wie immer. Julie fiel zum ersten Mal auf, dass er inzwischen ein wenig größer war als sie.
»Worüber willst du reden?«
»Darüber, wann wir zur Küste weiterziehen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ohne die Schausteller kommen wir viel schneller voran, und es kann sein, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Die Seraphim sind kurz davor, in Paris die Herrschaft zu übernehmen, wenn die Berichte von dort stimmen. Ich habe in Rennes gehört, dass die Cherubim alle Aufstände unterdrücken. Wenn der Erzengel sich überhaupt noch in Mont St. Michel aufhält, wird er es nicht mehr lange tun. Sobald er in Versailles ist, und das ist sicherlich sein Plan, kommen wir nicht mehr an ihn heran.«
»Warum glaubst du, dass wir gegen den Erzengel auch nur den Hauch einer Chance haben?« In Rubens Stimme lag der herausfordernde Unterton, der Julie immer ärgerte, aber sie hielt sich zurück.
»Ich weiß nicht, ob wir ihn wirklich besiegen können«, sagte sie. »Aber wenn wir Plomion finden und er dieses Gerät für uns baut …«
Ruben unterbrach sie. »Wenn, wenn, wenn … Wir wissen ja nicht einmal, wozu das Ding gut ist! Und was macht dich eigentlich so sicher, dass du auf der richtigen Seite stehst?«
Einen Moment lang wusste Julie nicht, was sie antworten sollte. »Weil der Erzengel und seine Anhänger böse sind. Du hast die Comtesse kennengelernt und weißt, wozu sie imstande ist«, sagte sie dann. »Sie hat meine Pflegeeltern töten lassen.«
Ruben schüttelte kaum merklich den Kopf. »Anfangs habe ich alles geglaubt, was du und die anderen mir erzählt habt. Aber inzwischen hatte auch ich Zeit zum Nachdenken: Welchen Beweis hast du, dass unser Vater hinter all dem steckt?«
»Weil …« Julie stockte. »Weil meine Pflegeeltern darüber gesprochen haben. Und auch Nicolas sagt, dass die Erneuerer die Menschheit unterjochen wollen.«
»Nicolas, aha.« Ruben zog die Augenbrauen hoch. »Seine Mutter interessiert sich nicht für ihn, vielleicht will er ihr einfach in die Suppe spucken?«
Julies Ärger wuchs, und sie musste
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