Die Prophezeiung des Adlers
Schreibtisch herum und setzte sich auf den Stuhl seines Vaters. Er faltete die Hände, stützte das Kinn darauf und beobachtete, wie Minucius und die beiden Leibwächter begannen, die Schatztruhen zu öffnen.
Vitellius nahm den Kasten hoch und ging zum Feuer hinüber. Er stellte ihn ab und hockte sich daneben. Dann nahm er zwei Scheite vom Holzstapel, legte sie auf die Glut und schürte das Feuer, bis er genug Licht zum Lesen hatte. Er klappte den Deckel des Kastens auf, nahm eine Schriftrolle heraus und untersuchte die Lederhülle, in die sie eingeschlagen war. Es standen verblasste Worte darauf, und er hielt die Griffe der Schriftrolle schräg, um besser lesen zu können. Die Worte waren Griechisch, wie er erwartet hatte, und als der Tribun sie lautlos übersetzte, steigerte seine Erregung sich fast ins Unerträgliche. Seine Finger zitterten leicht, als er die Hülle herunterschob und weglegte. Die Prophezeiungen waren mit feiner roter Schrift auf dem besten Pergament festgehalten worden, das er je gesehen hatte. Es war beinahe so zart wie die Haut eines Säuglings, und bei diesem Vergleich musste er einen leisen Schauder des Entsetzens unterdrücken. Vitellius rollte das Schriftstück von einem Griff zum anderen ab und überflog dabei den Text, der die Zukunft Roms Jahr für Jahr vorhersagte. Sein Blick fiel auf Hinweise bezüglich einer Katastrophe in den Wäldern Germaniens, den Aufstieg eines verrückten jungen Prinzen, der sich selbst zum Gott erklären würde, seine Nachfolge durch einen närrischen Krüppel … Vitellius suchte weiter, seine Augen überflogen die Schriftrolle in fieberhafter Spannung, und endlich verharrten seine Hände, da er das Erhoffte gefunden hatte. Er las den Absatz langsam, und dann wieder und wieder, um sich ganz sicher zu sein. Er spürte, wie das Feuer des Ehrgeizes in seinen Adern brannte, als er die Worte leise murmelte:
»Wenn der Letzte der Claudier
durch eigene Hand gestorben ist,
wird Rom an einen Mann übergehen,
der das Zeichen des Jagdbogens trägt … «
»Was war das, Herr?«, fragte einer der Leibwächter.
»Nichts«, erwiderte Vitellius leise, ohne sich umzudrehen. »Es ist nichts.«
Der Leibwächter sah seinen Herrn kurz an, zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder den Truhen zu, die nun um den Schreibtisch herum auf dem Boden standen. Jede Truhe, die er und die beiden anderen Römer geöffnet hatten, war mit Gold, Silber und manchmal auch kostbaren Steinen gefüllt. Der Schatz in den Truhen war so groß, dass man damit eines der schönsten Häuser Roms hätte kaufen und mit allem nur erdenklichen Luxus hätte ausstatten können. Und doch, als die leisen Ausrufe des Erstaunens und der Freude zu Vitellius herüberdrangen, kam ihm das so lächerlich vor, dass er unwillkürlich verächtlich grinste. Alles Gold der Welt war nichts im Vergleich zum Wert der Schriftrolle auf seinem Schoß.
Vitellius rollte das Dokument hastig wieder zum Anfang zurück und schwelgte dabei in dem Wissen, dass er dazu ausersehen war, einer der Lieblingssöhne des Schicksals zu werden. Später, wenn er sich in Sicherheit befand, würde er den Rest der Prophezeiungen in aller Ruhe durchlesen. Behutsam legte er die Schriftrollen in den Kasten zurück, klappte den Deckel zu, klemmte ihn unter den Arm und stand auf.
»Zeit zu gehen.«
Minucius und die Leibwächter stopften hastig die letzten Münzen und Juwelen in ihre Geldbeutel und Provianttaschen. Als der Centurio sich umdrehte, um den Gefangenen vom Stuhl seines Vaters zu holen, ertönten draußen unter dem Fenster plötzlich Rufe.
KAPITEL 41
E inen Augenblick lang standen die vier Römer regungslos da, während das Geschrei immer lauter wurde. Minucius war der Erste, der den Bann durchbrach. Er ging zum Fensterladen, schob den Riegel behutsam zurück und öffnete ihn einen Spalt. Unten wimmelte der Hof von Männern, von denen einige Fackeln hielten. Räder polterten über Pflastersteine, und gleich darauf rumpelte ein schmaler Wagen durch den Torbogen. Die Piraten wichen ihm aus, während er auf dem Hof im Kreis fuhr und stehen blieb, als er wieder zum Tor hin ausgerichtet war. Einer der Fackelträger rief Befehle, und die Piraten gingen zu einem Tor neben der Einfahrt, warfen die Türflügel auf und traten ein. Kurz darauf kamen sie mit Wurfspeeren, Kampfbogen und Pfeilen zurück. Minucius begriff, dass sich unter den Mauern des Hofs das Waffenlager der Piraten befinden musste. Die Waffen wurden in den Wagenkasten gelegt,
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