Die Prophezeiung des Adlers
des jungen Mannes, aber vielleicht war er ja nach der Folter so gebrochen, dass er sich in seiner jämmerlichen Verfassung von beinahe allem überzeugen ließ.
Sie fuhren zur Spitze des Felssporns, wo die Felsfront leicht zum Meer hin abfiel, und bald hörte man vom Boot aus das Plätschern der Wellen gegen den Fuß der Klippen.
»Rudern einstellen«, befahl Vitellius leise. »Ajax, was jetzt?«
»Fahr ein Stück weiter. Siehst du diesen Felsen? Umrunde ihn. Langsam.«
Das Boot glitt auf eine scheinbar lückenlose Felsreihe zu. Einer war größer als die anderen. Die sanfte Dünung schlug mit einem leisen Zischen gegen das Boot, und einen Augenblick lang war Minucius sich sicher, dass der Pirat das Boot absichtlich an den Felsen zerschellen lassen wollte. Dann sah er, was Ajax gesucht hatte: eine schmale Öffnung hinter dem größeren Felsen. Diese führte in ein kleines Becken. Vitellius’ Leibwächter ruderten sofort kräftig auf die Öffnung zu, und das Boot schoss durch den Spalt in das geschützte Wasser dahinter. Am Fuß der Klippe lag eine flache Felsplatte. Die Klippe ragte hoch über ihnen auf, und oben konnten sie undeutlich die weiß getünchten Gebäude erkennen, die auf das Meer hinausblickten.
»Dorthin.« Vitellius zeigte auf die Felsplatte, und das Boot glitt vor und stieß dagegen. Der Tribun kletterte hinaus und trat an Land. Die Festmachleine hielt er dabei fest in der Hand. Einer seiner Leibwächter folgte ihm, während sein Kamerad Ajax und Minucius aus dem Boot half.
»Soll ich das Boot festbinden?«, fragte einer der Leibwächter.
»Nein. Zieh es am besten auf den Felssockel, wo man es nicht sieht.«
Während die beiden Männer das Boot aus dem Wasser hievten und über den algenbewachsenen Felsen schleiften, führte Vitellius die anderen zum Fuß der Klippe. Es gab in unregelmäßigen Abständen Haltemöglichkeiten für Hände und Füße, die den Berg hinaufführten. Er probierte die ersten aus und kletterte zwei Meter hinauf, nickte dann befriedigt und ließ sich wieder zu den anderen hinunter. Vitellius wandte sich an einen der Leibwächter.
»Trebius, du voran. Klettere hoch und schau, wohin das hier führt. Wir folgen dir … «
»Jawohl, Herr.« Das Widerstreben des Mannes, in der Dunkelheit eine Felswand zu erklimmen, war unübersehbar, und Vitellius beugte sich zu ihm vor.
»Denk an den Schatz, Mann. Und jetzt los!«
Der Leibwächter nahm die Felswand in Angriff und kletterte stetig von einem Haltegriff zum nächsten. Vitellius wartete kurz ab und zog sich dann ein Stück hoch. »Ich bin der Nächste. Dann kommt Ajax und dann Minucius. Falls der Junge irgendwas Komisches versucht, bring ihn zum Schweigen, Centurio.«
»Jawohl, Herr.«
Vitellius nickte seinem zweiten Leibwächter zu. »Du folgst als Letzter, Silus.«
Langsam und äußerst vorsichtig kletterten sie die Felswand hinauf. Ajax, der den Aufstieg schon oft gemacht hatte, war sich des Wegs weit sicherer und wäre Minucius vorausgeeilt, hätte der Centurio ihn nicht beim Sprunggelenk gefasst und an Vitellius’ Drohung erinnert. Zweimal verlor der vorderste Mann den Weg, und alle mussten haltmachen, während er zurückkletterte. Ajax flüsterte ihm dann Anweisungen zu, damit er die richtigen Haltegriffe fand. Aber endlich gelangten sie einer nach dem anderen in einen kleinen Einschnitt oben auf der Klippe. Der Boden war dort mit Schutt bedeckt, und Vitellius begriff, dass sie auf den Ruinen eines Hauses standen, das eingestürzt und ins Meer gefallen war. Rundum erhoben sich die bleichen Wände weiterer Häuser. Gegen die kühle Nachtluft waren die Läden vorgelegt. Eine Weile saßen sie schweigend da und schöpften Atem.
Dann flüsterte Vitellius: »Stiefel ausziehen. Bindet die Schnürsenkel zusammen und hängt sie euch um den Hals.«
Als sie fertig waren, stieß er ihren Gefangenen an. »Los geht’s. Vergiss nicht, dass der Centurio unmittelbar hinter dir geht. Wenn du irgendeinen Trick versuchst, wird er dich schneller töten, als du denken kannst. Verstanden?«
»Ja«, erwiderte Ajax leise und erhob sich. »Hier entlang.«
Er führte sie über den Schutt zu den Überresten einer Mauer, die auf die schmale Gasse dahinter blickte. Sie warteten einen Augenblick ab, um sicherzugehen, dass alles ruhig war, stiegen dann rasch über den bröckelnden Mauerrest und huschten in den dunklen Schatten des Gebäudes gegenüber.
»Wie weit noch?«, flüsterte Vitellius.
»Hier entlang, über eine kleine Kreuzung und
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