Die Prophezeiung des Adlers
die Steigung zum Tor hinauf.«
»Du voran.«
Ganz kurz kam es Vitellius so vor, als hätte er in Ajax’ Gesicht ein Lächeln gesehen, aber wahrscheinlich war das nur ein Schatten. Dann schlich der junge Mann vorwärts, dicht von den vier Römern gefolgt. Lautlos huschten sie eine schmale, gepflasterte Gasse hinauf. Ihre Stiefel baumelten vor ihrer Brust, während sie barfuß über den Stein tapsten. Vor ihnen schimmerte ein schwaches Licht, in dem sich das Ende der Gasse und der offene Platz dahinter abzeichneten. Ajax schlich vorwärts, doch Minucius hielt ihn energisch fest, trat vor ihn und spähte vorsichtig um die Ecke.
Die Kreuzung lag auf einem kleinen Platz, und an dessen hinterer Ecke brannte ein Feuer auf den Pflastersteinen. Ringsherum kauerten schlafende, in Decken gehüllte Männer. Einer war wach, saß mit dem Rücken zur Kreuzung und starrte in die Flammen. Minucius hielt die Augen auf den Mann geheftet, winkte die anderen weiter und packte Ajax am Handgelenk, als dieser an ihm vorbeitrabte. Tief geduckt huschten sie lautlos so rasch sie konnten an den heruntergekommenen Häusern entlang, die den Platz säumten, und verschwanden in den Schatten einer schmalen Gasse, die zu einem großen Torbogen führte. Die Torflügel waren längst verfault und lehnten an den Wänden des Bogens. Vor ihnen lag ein kleiner Hof, und dahinter stand als massiger Klotz ein alter, befestigter Wachturm. Hinter den geschlossenen Läden eines Fensters hoch im Turm drang Licht hervor, und von oben auf der Plattform drangen leise Stimmen herunter.
Minucius blieb im Torbogen stehen und zog Ajax nach unten, während die anderen von hinten herantraten.
»Ist es dort?«, fragte Vitellius leise.
Ajax nickte.
»Wo sind die Wachtposten? Zumindest hier sollten doch Wachtposten stehen.«
»Vielleicht sind sie unten an der Mauer«, brummte Minucius. »Falls Vespasian einen nächtlichen Angriff unternimmt.«
»Und wer ist jetzt da oben auf dem Turm?«
»Die Bedienungsmannschaft des Katapults«, erklärte Ajax. »Es steht eines dort oben.«
Vitellius spähte zum verschwommenen Umriss der Zinnen hinauf, blickte sich dann vorsichtig im Hof um und wandte sich wieder Ajax zu. »Nun gut, wie kommen wir rein?«
»Folgt mir.« Ajax, den der Centurio noch immer festhielt, stand auf und zeigte mit der freien Hand nach vorn. Vitellius schob Minucius von hinten an.
»Nun gut. Los.«
Sie überquerten den Hof und huschten um den Turm herum, bis sie zu einer großen, eisenbeschlagenen Tür kamen. Minucius betastete das verwitterte Holz, und seine Finger schlossen sich um einen großen, schweren Riegel. Er wollte ihn gerade hochheben, als er nur wenige Schritte entfernt plötzlich ein Schnauben hörte. Auf dem Boden bewegte sich jemand, und dann dröhnte ein lautes Schnarchen durch die Dunkelheit. Alle fünf fuhren bei dem Geräusch zusammen. Als er sich von seinem Schreck erholt hatte, zog Vitellius Trebius zu sich und flüsterte: »Kümmere dich um ihn.«
Man hörte die Dolchscheide des Mannes leise rasseln. Der Leibwächter beugte sich über den schnarchenden Wachtposten, presste ihm die Hand auf den Mund und stieß ihm die Spitze seines Dolches unter dem Kinn hindurch in den Schädel hinauf. Den Körper des Wachtpostens durchlief ein krampfhafter Ruck, und er bäumte sich auf, bevor er leblos zurückfiel. Trebius löste vorsichtig die Hand von seinem Mund und zog die Klinge heraus. Er wischte sie an der Tunika des Wachtpostens ab, steckte den Dolch wieder in die Scheide zurück, bückte sich, packte die Leiche unter den Schultern und schleifte sie um die Ecke. Dann kam er zu den anderen zurück.
»Reingehen«, befahl Vitellius, und Minucius hob den Riegel an und schob die Tür langsam auf. Das leise Knarren hallte nicht wider, und so wusste er, dass sich hinter der Tür nur ein kleiner Raum befand. Der Centurio trat vorsichtig ein und schob die nackten Füße hin und her, bis er mit dem Schienbein etwas Hartes streifte. Er beugte sich vor und tastete mit den Händen. Eine Stufe, und dahinter eine weitere.
»Eine Treppe, hier rechts von der Tür«, flüsterte Minucius. »Was jetzt, Junge?«
»Steigt hoch. Das Zimmer meines Vaters liegt auf der linken Seite des Ganges. Die Treppe führt bis zur Katapultplattform an der Turmspitze hinauf.«
Minucius krabbelte auf allen vieren voran, immer eine Stufe nach der anderen, bis er mit den Fingern den Treppenabsatz ertastete. Er sah sich um und entdeckte ein paar Schritte entfernt ein
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