Die Prophezeiung des Adlers
Rumpeln von Wagenrädern kündigte die Rückkehr des Wagens an, und die Männer im Hof sprangen auf und traten zu dem Gefährt, sobald es einfuhr. Der Wagenkasten war voll von hastig verbundenen Verwundeten, und sie wurden ausgeladen und in die Kellerräume getragen. Sobald die Verwundeten weggebracht worden waren, beluden die Männer im Hof den Wagen erneut mit Waffen, die aus dem Keller unter dem Wachturm herausgeschafft wurden. Vitellius blickte vom Hof nach oben, und ihn verließ der Mut. Ganz schwach zeichnete sich der heller werdende Himmel über der pechschwarzen Silhouette der Berge auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ab.
»O nein … «
Minucius drehte sich um. »Herr? Was ist?«
»Uns läuft die Zeit davon. Bald bricht der Tag an.«
»Dann müssen wir etwas unternehmen. Sofort!«
»Was schlägst du vor, Centurio?«
Es folgte ein winziges Zögern, und dann fuhr Minucius mit leiserer Stimme fort: »Die Klippen. Wir müssen das Risiko eingehen.«
»Aber du hast Ajax doch gehört. Es ist unmöglich.«
»Wir müssen es versuchen. Schicke einen deiner Männer zur anderen Seite hinaus, um dort nachzuschauen.«
»Das ist sinnlos. Ajax hat gesagt … «
»Ajax lügt vielleicht, Herr. Wir können es uns nicht leisten, ihm zu vertrauen. Schicke deinen Mann wenigstens los, um seine Worte zu überprüfen.«
Vitellius runzelte verärgert die Stirn und blickte nach draußen. Der Himmel war eindeutig heller geworden. Er hatte keine Zeit zu verlieren, also stellte er den Kasten mit den Schriftrollen auf den Tisch und blickte seine Männer an.
»Nun gut. Ich gehe und vergewissere mich selbst.« An der Tür zögerte er und schaute sich noch einmal um. »Trebius, du kommst besser mit, falls uns jemand über den Weg läuft.«
»Jawohl, Herr.«
Vitellius wandte sich an Minucius. »Sorge dafür, dass der Gefangene ruhig bleibt, und halte dich dem Fenster fern. Wir brauchen nicht lange. Wir werden zweimal klopfen, damit du weißt, dass wir es sind.«
Nachdem die Tür hinter ihnen zugegangen war, wartete Minucius kurz ab, bis der leise Klang ihrer Schritte verhallt war, wandte sich dann dem anderen Leibwächter zu und lächelte.
»Diese Schriftrollen machen mich neugierig. Dich nicht auch?«
Silus zuckte mit den Schultern. »Nun ja, ein wenig schon.«
Minucius stellte sich neben den Kasten und kratzte sich am Kinn. »An diesen Schriftrollen ist mehr dran. Es muss so sein. Vielleicht hat es etwas mit dem Kasten zu tun. Vielleicht ist noch etwas anderes darin versteckt.« Er beugte sich stirnrunzelnd über den Kasten und zeigte auf eine Kerbe im Deckel. »Was ist denn das?«
Der andere Mann kam herübergeschlendert und schaute auf die vom Centurio bezeichnete Stelle.
»Ich weiß es nicht. Da hat er wohl einfach eine Macke abbekommen.«
»Nein.« Minucius trat zur Seite, um dem Leibwächter Platz zu machen. Als Silus sich über den Kasten beugte, packte Minucius seinen Schwertgriff fester. »Schau genauer hin.«
»Was denn? Ich sehe nichts … « Der Leibwächter begann, sich aufzurichten.
Minucius riss sein Schwert aus der Scheide, holte damit weit aus und hieb es heftig in den Hals des Leibwächters. Von dem Schlag kippte der Kopf zu Seite, während die Klinge Fleisch, Muskeln und das Rückgrat durchschnitt. Minucius riss sein Schwert zurück und verharrte, bereit, erneut zuzuschlagen. Aus dem Hals des Leibwächters schoss Blut, und mit einem letzten überraschten Blick auf den Centurio brach Silus auf dem Boden zusammen. Um seinen Kopf und seine Brust breitete sich eine Blutlache aus. Er zuckte noch kurz, und dann lag sein Körper still da.
Ajax hatte recht gehabt, überlegte Vitellius verzweifelt, als er und Trebius sich in den Turm zurückschlichen und leise die Treppe zu Telemachos’ Zimmer heraufhuschten. Sie hatten sich am Sockel des Wachturms vorbeigeschoben, über den Rand der Klippe gespäht und weit unten gehört, wie das Meer gegen die Felsen brandete. Obwohl noch ziemliche Dunkelheit herrschte, war doch klar, dass diese Richtung keine Fluchtmöglichkeit bot. Sie hatten nur eine einzige Stelle gefunden, wo die Klippe einen steilen Abhang zu bilden schien, und Vitellius hatte Trebius dort hinuntergeschickt, um zu sehen, wie weit er kam. Doch schon nach gut fünf Metern war der Leibwächter auf eine Steilwand gestoßen und gezwungen gewesen, zurückzuklettern.
Solange der Feind im Hof blieb, saßen sie also in der Festung fest. Da nun der Himmel immer heller wurde, gab es nur noch eine
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