Die Prophezeiungen von Celestine
Gewehrschüsse die Luft.
Einen Augenblick lang stand er bewegungslos mit glasigen Augen, dann neigte sich sein Körper nach vorn und fiel um. Blindlings rannte ich nach Norden, immer darauf achtend, daß sic h zwischen mir und dem Soldaten Bäume befanden. Der Bergrücken
wurde zusehends zerklüfteter und steiniger und stieg immer steiler an.
Vor Erschöpfung und nackter Angst am ganzen
Körper zitternd, kämpfte ich mich zwischen den Felsen den Berg hinauf. Einmal stürzte ich und wagte einen Blick zurück: Der Soldat hatte sich der Leiche genähert. Gerade noch rechtzeitig verschwand ich hinter einem Felsen; mir schien, als habe der Soldat genau in meine Richtung geschaut. Ich hielt mich dicht am Boden und kroch an einigen anderen Felsen vorbei. Dann fiel der Kamm etwas ab, so daß der Blick des Soldaten blockiert war. Ich sprang wieder auf die Beine und bewegte mich, so schnell ich konnte, zwischen den Felsen und Bäumen hindurch.
Mein Verstand war wie eingefroren. Das einzige, woran ich noch zu denken vermochte, war haltlose Flucht. Obwohl ich mich nicht traute, einen Blick zurückzuwerfen, war ich mir sicher, den Soldaten hinter mir zu hören.
Vor mir stieg der Kamm scheinbar unaufhörlich an, und mit allmählich versiegender Kraft kämpfte ich gegen die Steigung. Weiter oben war der Boden eben und dicht bewachsen mit Bäumen und üppigem Unterholz. Dahinter erhob sich eine solide Fels wand, die ich vorsichtig unter Zuhilfenahme jeder sich bietenden Hand- und Fußstütze erklomm. Auf dem Gipfel angekommen, taumelte ich ein wenig, und bei dem Anblick, der mich dort erwartete, fiel mir das Herz in die Hose. Ein etwa dreißig Meter tiefer Abgrund blockierte meinen Weg; weiter ging es beim besten Willen nicht.
Ich war am Ende, verdammt zu sterben. Das Ge-räusch fallender Steine hinter mir verriet mir das rasche Näherkommen des Soldaten. Erschöpft sank ich auf die Knie, mich mit einem letzten Seufzer in mein Schicksal fügend, gab ich den Kampf auf. Bald, so war ich mir sicher, würden mich die Kugeln treffen. Und interessanterweise schien die Aussicht auf den Tod nach all dem Terror eine beinahe will-kommene Erlösung. Während ich dort oben saß und wartete, blitzten Bilder von friedlichen Sonntagen und der naiven Vorstellung von Gott aus der Zeit meiner Kindheit auf. Wie würde der Tod aussehen? Ich versuchte mich für die bevorstehende Erfahrung zu öffnen.
Nach einer langen Wartezeit, während der mir jedes Zeitgefühl verlorenging, bemerkte ich schließ-
lich, daß nichts passiert war. Ich sah mich um und erkannte, daß ich mich auf dem höchsten Gipfel des Berges befand. Andere Bergkämme und Klippen
lagen unter mir, und ich hatte einen phantastischen Ausblick in alle Himmelsrichtungen.
Plötzlich stach mir eine Bewegung ins Auge. Dort, ganz weit unten, schlenderte der Soldat gelassen in die entgegengesetzte Richtung den Südhang hinab, das Gewehr von Jensens Gefolgsmann über die
Schulter geschwungen.
Sein Anblick wärmte mein Herz und erfüllte mich mit Wogen stillen Gelächters. Es war geschafft! Ich wandte mich um, setzte mich in den Schneidersitz und genoß meine Euphorie. Am liebsten wäre ich für immer dort oben geblieben. Die Sonne schien, der Himmel war blau, und beides verlieh dem Tag etwas Brillantes.
Während ich dort saß, überwältigte mich die Nähe der Berge, oder besser gesagt, das Gefühl ihrer un-mittelbaren Nähe. Das gleiche traf auf ein paar weiße Wolken zu, die weit über meinem Kopf dahinzogen.
Ich hatte das Gefühl, sie mühelos mit der ausge-streckten Hand berühren zu können.
Als ich meinen Arm gen Himmel streckte, bemerkte ich, daß mein Körpergefühl sich verändert hatte. Mit geradezu unvorstellbarer Leichtigkeit war es mir möglich gewesen, meinen Arm in die Höhe zu
strecken, und mein Rücken, der Nacken und mein Kopf hielten sich ebenso mühelos in einer perfekten Geraden. Als ich mich ohne Zuhilfenahme der Arme erhob und mich streckte, durchströmte mich ein Gefühl vollkommener Leichtigkeit.
Ein Blick auf die entfernten Berge ließ mich den gerade untergehenden Mond erkennen. Er war zu einem Viertel voll und hing über dem Horizont wie eine umgestülpte Schüssel. Ich verstand sofort, weshalb er diese Form hatte. Die Sonne, Millionen von Meilen über meinem Kopf, schien lediglich auf die Spitze des untergehenden Mondes. Ich sah den exak-ten Verlauf der Sonnenlinie auf der Oberfläche des Mondes, und diese Tatsache ließ mein Bewußtsein noch weiter
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