Die Puppe an der Decke
Stunde. Die Übelkeit stellte sich wieder ein, sie musste etwas essen, jetzt musste sie etwas essen, und dann stand plötzlich Nina Granum auf der Treppe, mit einem für vierzig Grad minus eingewickelten Kind. Sie trug einen rostroten Mantel und eine passende Baskenmütze, einen langen grünen, auf französische Art arrangierten Schal und hohe braune Lederstiefel. Aus dieser Entfernung war es unmöglich zu sehen, ob sie schön war oder nicht, aber ihre goldenen Haare wogten üppig über ihre Schultern.
Der Kindersitz. Das Kind hasste den Kindersitz. Rebekka registrierte eine fehlende Entschiedenheit in Nina Granums Umgang mit einem alltäglichen Problem, eine fehlende Entschiedenheit, die das Kind noch wütender werden ließ.
Das ergab einen Sinn. Es war ja so richtig. Die Bewegungen dieser Frau hatten etwas Unbeholfenes, Jungmädchenhaftes, das zu der Selbstsicherheit passte, die Niels Petter Holand ausstrahlte. Passte. Dazu.
Wo hatte Nina ihn kennen gelernt? Auf einem Fest? In einem Lokal? Rebekka stellte sich Niels Petter Holands weißes Lächeln vor, seine braunen Hände mit den schwarzen Haaren, es waren schöne Hände, sie hatte in einem Buchladen hinter ihm an der Kasse Schlange gestanden und gesehen, wie er mit seiner VISA-Karte ein Buch über Segelboote bezahlte, und sie hatte gedacht: das sind schöne Hände. Sie war ihm in den Buchladen gefolgt und hatte zugesehen, wie er ein Buch über Segelboote kaufte. Sie hatte an geblähte Segel und offenes Meer gedacht, Meer als das Symbol der Freiheit, der Möglichkeiten, die vor einem Menschen lagen. Und sie stellte sich diese Hände fern von Ruder und Tauwerk vor, zwischen weißen Oberschenkeln, Lederhaut auf schwarzer Seide, ob er ein guter Liebhaber war? Fest stand, dass er jetzt einen Hafen gefunden hatte, dass hier der Hafen war, den Niels Petter Holand für sicher hielt, für endgültig.
Als Nina Granum auf die nasse Straße abbog, fuhr sie ihr hinterher.
Am Vortag hatte sie auf Spar unten in Stranden getippt, aber Nina Granum fuhr in die Stadt. Im Zentrum suchte sie sich einen Weg durch die engen Gassen und hielt am Marktplatz. Sie setzte das Kind in eine Karre und ging in Richtung Warenhaus, einem architektonischen Fehltritt im Stil des Hauses, in dem ihr Mann Büroräume gemietet hatte.
Das geht nicht. Das ist nicht richtig. Ihr zieht in dieselbe Richtung, und das ist nicht richtig. Sie hatte eine Erinnerung aus ihrer eigenen Kindheit. Es musste in den Herbstferien gewesen sein, denn die Nacht war pechschwarz, sie war ein Schulmädchen, vielleicht zehn oder elf. Sie war davon aufgewacht, dass ihr Großvater im Zimmer stand.
»Jetzt musst du kommen, Rebekka. Das musst du sehen!«
Sie hatte gefragt, ob Krieg sei. In der Stimme ihres Großvaters lag ein Zittern, das sie beunruhigte, die Erwachsenen sprachen immer über den Krieg wie vom Gegenteil zu der Geborgenheit, von der sie sich umfangen fühlte, und das hier, der Großvater, der sie mitten in der Nacht weckte, war anders als alles, was sie bisher erlebt hatte.
»Es ist kein Krieg. Jetzt komm. Hier sind deine Pantoffeln.«
Als sie aus dem Mädchenzimmer ins Wohnzimmer im ersten Stock kam, sah sie die Großmutter am Fenster stehen, mit dem Rücken zur Tür. Sie hatte einen Schal um die Schultern geworfen, aber ihre Füße standen nackt auf dem Teppich. Und in dem dunklen Zimmer, in dem keine Lampe brannte, tanzten orangene Funken und Schatten über die Wände.
»Es ist doch kein Krieg«, wiederholte der Großvater, »sondern der Kragstadhof, der brennt.«
Die Großmutter weinte.
Unter ihnen lag die beleuchtete Innenstadt. Das dreistöckige Holzhaus, das den östlichen Teil des Marktplatzes einrahmte, brannte lichterloh. Die Flammen schlugen himmelhoch in die Herbstnacht, der Wind kam wie ein Blasebalg vom Fjord, die Feuerwehrleute wichen vor den Windstößen zurück. Der Kragstadhof brannte, war aufgegeben worden, es ging jetzt darum, die übrigen Holzhäuser zu retten. Es war beängstigend. Bis jetzt waren Feuer und der Geruch von brennendem Holz mit der Geborgenheit in diesem Haus verbunden gewesen. In Oslo wurde nicht mit Holz geheizt, aber wenn sie und Stina im Herbst und Winter herkamen, gehörten die schwarzen blanken Öfen zu dem Bild, nach dem sie sich immer sehnten. Der Feuerschein hinter dem silbernen Gitter, das Knistern und der würzige Dampfgeruch erzeugten einen Zauber, der sie später nie wieder ganz losließ. Sie hatte noch immer den Geschmack der Brotkuchen im Mund, die die
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