Die Puppe an der Decke
ihn. Das ist das Geheimnis. Ich kann ihn mir gut in einem Keller vorstellen. Er hat ein starkes Gesicht. Ich glaube, er ist keiner, der aufgibt, ehe er die Scheiße und die Wahrheit aus dir herausgeprügelt hat. Ich hoffe, das hast du bedacht.«
Aber sicher doch. Es gibt nur einen einzigen Keller auf der ganzen Welt, in den Niels Petter Holand sie mitnehmen könnte, und das ist Leos eigener Keller. Das hat sie bedacht. Alles andere wäre zu einfach. Nein. Zu einsam. So ist es gut. Sie hat sich seit dem Tod der Großeltern auf niemanden verlassen können, diese Erkenntnis überkommt sie jetzt. Sie muss fast lachen. So viele Jahre im Nichts. Eine ganze Ehe. Zwei Kinder. Nichts.
»In der Küche ist noch mehr Wein. Im Schrank. Lass dich nur sternhagelvoll laufen.«
»Nein, ich gehe schlafen.«
»Zieh erst den Mantel aus«, sagt er. »Du hast noch immer den Mantel an. Und die Stiefel.«
Aus dem Nachtbuch:
Ich habe geträumt, dass ich mit Stina am Fjord entlangging. Es war Herbst, es roch säuerlich noch verfaulenden Blättern, es tropfte von den schwarzen Bäumen. Ich ging weiter und hielt Stina an der Hand, ich trug viel zu große Gummistiefel. Ich dachte es nicht, aber ich wusste es, so, wie man im Traum Dinge weiß und spürt, dass es Opas Gummistiefel waren, und dass wir fortgingen, fort, fort, von etwas, das nur vage war, dunkel, nicht konkret, es war ein unbehagliches Gefühl im Bauch. Dann blieben wir unter einer der großen Erlen stehen, die fast ins Wasser hinein wachsen, es wurde kein Wort gesagt, aber Stina musste pinkeln, sie hockte sich mitten auf den Weg und pinkelte. Und dann – unlogischerweise – hing ich an einem der starken Äste, ich hing dort und mein Bewusstsein lag irgendwo rechts von meinem Körper, ich konnte auf meine großen Stiefel hinunterblicken, genauer gesagt zu ihnen hinüber, sie baumelten in der Luft, fielen aber nicht herunter. Es regnete. Es war dunkel. Stina hockte unten wie eine ausgezogene Puppe, hockte dort und pinkelte. Dann hörte ich die Hunde. Sie kamen näher, eifrig bellend, es waren große Hunde mit rauen Stimmen, und Stina löste sich auf und verschwand. Dann kam das Geräusch von Karrenrädern im Schlamm, altmodische Karrenräder, mit Metall beschlagenes Holz, das sich durch den weichen Boden kämpfte, es war eine Art schlürfendes Geräusch, ich sah etwas vor mir, ETWAS, das in mir ein-und ausglitt, dann zurück zu den Karrenrädern, dem Wasser, das gegen den Boden schlug, das sich in den Boden schlug. Ich sah, nein, ich spürte einen Kutscher, einen Mann ohne Gesicht, eine Peitsche in der Hand, und einen Klepper mit gesenktem Kopf, der vor einen zerbrochenen Wagen gespannt war, auf dem ich bereits weiß und still in dieser gurgelnden und tropfenden Nässe lag. Die Hunde waren irgendwo draußen. Stina verschwunden. Ich schaute auf Opas große Stiefel hinunter, die einfach in der Luft baumelten, und dann auf mich selbst, auf die groben Bretter im Karren, etwas Schreckliches war geschehen, jemand war gekommen, um mich zu holen, jemand. Ich erwachte, nein, ich weckte mich selbst, und sofort wusste ich nicht mehr, wo ich war. Es gab hier andere Gerüche, als ich sonst gewohnt bin, es stank nach Schweiß, und das Bettzeug war feucht unter meiner Haut. Ich setzte mich auf, und dann war alles wieder gut, durch die offene Tür sah ich Leos breiten Rücken im Sessel vor dem Fernseher, da saß er und trank und sah fern. Das blaue Licht tanzte bei jedem Szenenwechsel über die Wände, hüpfte und sprang über die bemalte Täfelung, Leo saß da und sah sich eine Schwimmmeisterschaft an.
Und ich sah mehr. Ich sah, dass Leo Niels Petters Gesicht mit breiten rostroten Strichen übermalt hatte, von dem ursprünglichen Bild war nur noch ein großes starrendes Auge zu sehen. Niels Petter Holand starrte mich an. Starrte mir ins Gesicht. Das Bild war halb von mir weggedreht, aber Niels Petter starrte mich an. Ich wusste, dass er mich immer anstarren würde, egal, aus welchem Winkel ich das Bild auch betrachtete. Ich ließ mich im Bett zurücksinken. Nickte ein und wachte wieder auf. Trieb zwischen den Welten hin und her. Schlief wieder ein. Träumte oder dachte: können sie heute Nacht schlafen? Ist das nicht total unmöglich? Aber der Mensch muss schlafen. Irgendwann muss der Mensch schlafen, so unmöglich das auch sein mag.
20
Jetzt wurde alles blau. Das Flimmern des Fernsehers aus der Nacht vor dem ersten Weihnachtstag schien in ihr Bewusstsein gekrochen zu sein, sie nahm ihre
Weitere Kostenlose Bücher