Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Krisenzustand geraten. Etwas, das seinen Kopf einfach abschaltet und das alles aus ihm hinausleitet. Er wirft einen Blick über die Schulter in die winzige Küche mit den kleinen, anheimelnden Akzenten, die Melanie dort gesetzt hat. Ein Druck mit einer Katze, die auf einer weißen mediterranen Mauer liegt und schläft. Eine Teekanne mit Deckel, bemalt mit dem blauen Wasser und dem Himmel der Riviera. Er ist sicher, dass Mel und er einander innerlich angerührt haben. Aber das hier? Diese Heimlichkeiten? Nach all der Offenheit, die er mit ihr zu erleben geglaubt hatte – nach dem Sex und dem Lachen und den freimütigen Geständnissen –, nach all dem hat sie immer noch etwas verheimlicht. AJ ist sicher, dass es etwas mit ihrer Trennung von Jonathan zu tun hat, er weiß allerdings nicht, was. Dieser Tag wird allmählich trostloser als der, an dem seine Mutter gestorben ist – allein im Garten, mit Gras und Erde auf der halb abgebissenen Zunge.
Er wäscht die Kaffeetassen ab. Melanie hat ein offenes Päckchen Schoko-Kleie-Kekse liegen lassen; er verschließt es gewissenhaft und legt es in eine Dose. Dann knipst er das Licht aus und geht durch ihr Büro zurück.
An der Tür bleibt er stehen, ganz still, lehnt den Kopf an und legt die Hand auf den Lichtschalter. Er atmet ein und aus.
Dann schaltet er das Licht wieder ein, geht zum Fenster, lässt die Jalousie herunter und setzt sich an Melanies Schreibtisch. Er ist aus funktionalem Buchenholz, hell wie klarer Honig und sorgfältig aufgeräumt. Zwei altmodische Ein- und Ausgangskörbe stehen aufeinander, und darin liegen ein, zwei Umschläge. Ihr Computer ist ein PC mit einer kabellosen Maus, und auf dem Mousepad steht, weiß auf blauem Hintergrund, ein Zitat: Versager wollen Spannung verringern, Sieger Ziele erreichen .
AJ betrachtet das Mousepad eine ganze Weile. Irgendwann berührt er die Maus, legt nur leicht die Finger darauf. Der Computer erwacht zum Leben.
Er ist passwortgesichert.
Natürlich.
Er lehnt sich zurück, beinahe erleichtert. Er will kein Schnüffler sein. Wirklich nicht. Er hat kein Recht, hinter Melanie herzuspionieren oder über sie zu urteilen. Es ist ja nicht so, als wäre er selbst perfekt. Sie hat es schwer gehabt, und vielleicht sollte er mehr Verständnis für sie haben. Sie konnte nicht wissen, wohin das alles führen würde. Er wird sie anrufen. Sich bei ihr entschuldigen. Er holt sein Telefon heraus und wirft einen Blick auf das Display, und plötzlich sieht er nur noch Isaac Handel mit den Händen an Zeldas Gurgel. Er steckt das Telefon wieder ein.
Unschlüssig trommelt er mit den Fingern auf den Knien. Schließlich öffnet er die unterste Schreibtischschublade. Viel Interessantes enthält sie nicht – einen Kulturbeutel, ein paar lila Pumps mit hohen Absätzen, vielleicht damit sie bei einem unerwarteten Anlass schick aussehen kann. Da sind auch ein Deodorant und eine hautfarbene Strumpfhose. In der nächsten Schublade liegen Büroklammern und Gummiringe. Darunter klemmt ein dickes Taschenbuch.
Er zieht es heraus: Schreiende Mauern – Ein Geisterjägerführer zu den besten Spuk-Irrenhäusern Großbritanniens . Sie muss es gekauft haben, nachdem »Maude« erschienen war. Vielleicht wollte sie Präzedenzfälle für den »Spuk« in der Klinik studieren. Erschienen ist das Buch 1999 – lange bevor »Maude« sich in Beechway das erste Mal bemerkbar gemacht hat. Aus Neugier schlägt er das Inhaltsverzeichnis auf und sucht nach Beechway. Es kommt nicht vor. Er will das Buch wieder weglegen, als ihm etwas anderes einfällt.
Der Index umfasst vier Seiten, aber er fährt aus reiner Neugier auf jeder Seite mit dem Finger herunter, und sein Blick überfliegt das Alphabet: Bedlam (Bethlem Royal Hospital); Cherry Knowle Hospital, Sunderland; Denbigh Hospital; Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen; Hine, G.T (Architekt); Psychiatriegesetz, Auswirkungen; Ryhope General Hospital; »Sitzen« und Besessenheit …
Er hält inne, und sein Finger bleibt unter den Wörtern stehen. Sitzen und Besessenheit?
Sofort schlägt er die angegebene Seite auf.
Der Text ist durchsetzt von Plänen und Fotos eines pseudo-gotischen Gebäudes. Es ist ein klassisches Armenhaus, erbaut nach dem empeigne - oder »Kamm«-Prinzip, wo separate Einheiten wie die Zähne eines Kamms durch eine Querspange miteinander verbunden sind. Die Details der »Gothic Revival«-Architektur sind bei der Restaurierung verloren gegangen; eine Reihe von
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