Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
hier überhaupt etwas passiert. Man sieht keine Strohballen, keine landwirtschaftlichen Geräte, keine Eimer und keine Pferdedecken, die über den Stalltüren hängen. Und keine Menschen. In einem offenen Carport, den Stallungen gegenüber, stehen drei hochkarätige BMW s, alle in dem gleichen Schiefergrau, aber davon abgesehen sieht hier alles unbewohnt aus.
Er hat sich nicht telefonisch angemeldet. Er wollte die Familie Keay nicht warnen und niemandem Zeit geben, sich Ausreden auszudenken. Aber vielleicht hätte er doch irgendeine Art von Kontakt aufnehmen sollen, und sei es nur, um festzustellen, ob überhaupt jemand da ist.
Durch das schmiedeeiserne Tor in der Mauer gelangt er in einen Knotengarten mit niedrigen, verschlungenen Buchsbaumhecken und einem hohen Nadelbaum in der Mitte, dessen Äste in Form eines dunklen Zeltes schräg zu Boden gerichtet sind. Eine Bank aus Stein umringt den Stamm, und ein paar bescheidene Statuen sind in dem Garten verstreut, allesamt von unten beleuchtet von unsichtbaren Strahlern. Das Haus selbst ist dreigeschossig, und im Dach befindet sich noch eine zusätzliche Reihe von Mansardenfenstern. Der Stamm einer gewaltigen Glyzinie bedeckt mit seinen Windungen die gesamte untere Hälfte der Fassade, knorrig und grau wie der Mauerstein. Die Haustür ist geschlossen, und in den Fenstern brennt kein Licht.
Das Geräusch des schweren eisernen Türklopfers hallt durch das Haus. Es ist lange still. Er will sich gerade umdrehen und zu seinem Wagen zurückgehen, als er hinter der Tür eine Frauenstimme hört.
»Wer ist da?«
»Polizei.«
»Polizei?«
»Kein Grund zur Beunruhigung – ich habe nur ein paar Fragen.«
Die Tür öffnet sich, und er sieht eine Frau – Ende fünfzig, groß und außergewöhnlich elegant in lavendelgrauem Pashmina und einer perfekt sitzenden Jeans. Das eckige Gesicht ist von sorgfältig geschnittenem, graugesträhntem Haar umrahmt. June Keay, denkt er. Jonathans Mutter.
»Detective Inspector Caffery.« Er reicht ihr seinen Ausweis. Sie nimmt ihn und studiert ihn aufmerksam. »Ich komme aus Bristol. Darf ich eintreten?«
Sie gibt ihm den Ausweis zurück. »Mein Mann ist nicht da. Wollten Sie mit ihm sprechen?«
»Nein. Es geht um Jonathan.«
Ihr Gesicht wird ausdruckslos. »Jonathan«, wiederholt sie hölzern. Es ist weder eine Frage noch eine Feststellung.
»Ja. Jonathan.«
»Mein Sohn.«
»Sie sind June Keay?«
»Ja.«
»Darf ich hereinkommen?«
Sie tritt zurück und gibt ihm die Tür frei. »Verzeihen Sie – wie unhöflich von mir.«
Sie gehen in eine mit Steinplatten gepflasterte Küche, gut geheizt von einem großen Gasherd. Auf einer Chaiselongue vor dem Fenster liegt eine Wolldecke und darauf eine Brille und ein iPad. Im Nachbarzimmer läuft Musik, eine Art gregorianischer Chorgesang. An der Wand dort drüben kann er ein Rehgehörn erkennen, und über einer Tür hängt eine Szene mit ausgestopften Tieren in einem Glaskasten: Eichhörnchen, gekleidet wie viktorianische Gentlemen, sitzen vor einem Kamin, rauchen und trinken Portwein. Viele elegante Möbel, viel Möbelpolitur, aber nirgends ein Zeichen von Leben.
Mrs Keay klappt das iPad zu. »Er ist oben. Ich bringe Sie gleich zu ihm. Aber können Sie mir vorher sagen, ob es um die Prügelei geht?«
»Prügelei?«
Mrs Keay schaut ihm forschend ins Gesicht. Dann lächelt sie betrübt. »Nein. Natürlich nicht. Es gab keine Prügelei, nicht wahr? Er hat mich angelogen. Ich wusste , dass er lügt.« Sie umklammert die Lehne der Chaiselongue und drückt sie geistesabwesend. Ihr Blick wandert ziellos zu ihrem Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe. »Er hat genau das gleiche Gesicht gemacht wie schon als kleiner Junge. Ich habe zu meinem Mann gesagt: ›Er lügt wieder.‹«
Caffery zog die Brauen hoch. »Er lügt?«
Sie sieht seine Verwirrung und seufzt. »Er war fast zwanzig Jahre weg – er hatte so eine studentische Phase und hat unser Geld verabscheut. Wollte seine Schulden an die Gesellschaft zurückzahlen. Wir hatten keine Chance, den Kontakt zu ihm zu beenden – er hat es getan. Und dann …« Sie streicht sich das Haar aus der Stirn. »Aus heiterem Himmel ist er zurückgekommen.«
»Klingt aber nicht, als wäre das gut.«
»Doch, es wäre gut gewesen, wenn er nicht so schlimm verletzt gewesen wäre.«
»Verletzt?«
»Wussten Sie das nicht? Er war im Krankenhaus – hat sich durch seine Verletzungen eine Sepsis zugezogen.«
»Woher hat er die Verletzungen?«
Sie runzelt kurz
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