Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
einer von denen, die man ins Irrenhaus sperrt. Du solltest damit zum Arzt gehen. Das gefällt mir gar nicht.«
AJ reibt sich die Augen. Er kommt herein, setzt sich auf einen der Stühle und streicht mit den Händen über das weiche Wildleder der Armlehnen. Er hat diesen Raum immer gemocht; er ist behaglich, hat aber nichts Klaustrophobisches. Hier kann man sich wohlfühlen und in die Welt hinausschauen: Man sieht den Mond oder die Sonne, die Stadt und die Bäume, die Autos und die Wolken. Es ist wie auf der Kommandobrücke eines Schiffs. Wie auf der Enterprise vielleicht. Der Glasschirm vor der Außenwelt ist schusssicher. Man hat viel Geld in diesen Kontrollraum gesteckt. Viel Geld und Macht und Reichtum. Das Kuratorium kann für so etwas eine Finanzierungsmöglichkeit finden, aber es kann nicht verhindern, dass jemand wie Moses sich in der Frühstücksschlange ein Auge herausreißt.
»Was meinst du?«, fragt er. »Glaubst du, unsere Direktorin weiß, wie sehr uns das zu schaffen macht? Hmm? Denkt sie, wir sind alle glücklich und zufrieden, oder weiß sie, dass uns das ziemlich heftig mitnimmt? Was hast du für ein Gefühl?«
Big Lurch senkt das Kinn auf die Brust und mustert AJ von oben herab. »Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Sie ist selber zu unglücklich, um sich noch darum zu kümmern, was mit uns los ist. Leid sieht man nur, wenn man selber nicht leidet. Fürsorglichkeit? Ist ein Luxus, wenn du die ehrliche Wahrheit hören willst.«
AJ nickt zustimmend. Big Lurch redet nicht viel, aber wenn er etwas sagt, sind seine Worte hochkarätig vergoldet.
»Und? Was macht sie unglücklich?«
»Weißt du das nicht?«
»Sollte ich es wissen?«
Big Lurch dreht sich um und sieht AJ ins Gesicht. Überrascht. »Du weißt es wirklich nicht?«
AJ starrt ihn verständnislos an. »Was denn? Was soll ich wissen?«
»Das mit Jonathan?«
» Jonathan? Was für ein Jonathan?« Er durchwühlt sein Gehirn nach einem Gesicht, das er mit diesem Namen in Verbindung bringen kann. Ein Patient? Nein – es gibt keine Jonathans in der Klinik. Der Einzige, der ihm einfällt, ist Jonathan Keay, ein Ergotherapeut, der die Klinik letzten Monat verlassen hat. »Meinst du Jonathan Keay?«
»Natürlich meine ich Jonathan Keay.«
»Den Ergi, der gekündigt hat? Was ist mit dem?«
Big Lurch schaut AJ amüsiert an und lächelt schief. Dann lässt er ein leises Lachen aus seiner Brust blubbern. Aha aha aha . »AJ, ernsthaft , Mann! Für einen wachen Menschen hast du manchmal wenig Durchblick.«
»Dann erklär’s mir, Herrgott.«
»Melanie und Keay? Das hast du nicht bemerkt?«
»Ist das dein Ernst?«
»Oh, bitte, Kollege. Bitte!«
AJ senkt den Blick auf die glatten Armlehnen seines Stuhls und bewegt die Hände auf und ab. Melanie und Jonathan Keay? Im Ernst? Bis jetzt hat er sich immer eingebildet, er sei hier derjenige, der sämtliche Geheimnisse kannte. Er sei es, der das Wissen der Welt auf seinen Schultern trage. Aber das ist er anscheinend nicht. Anscheinend erfährt er alles als Letzter. Ergotherapeuten treiben es mit dem Topmanagement? Wenn das stimmt, ist es ziemlich skandalös – das größte Tabu, so wie Unzucht mit einer Patientin. Die Montagues und die Capulets. Das hat Melanie selbst gesagt: Das Kuratorium sieht es nicht gern.
Und trotzdem hatte sie was mit Keay? Jonathan ist jemand, über den AJ nie viel nachgedacht hat. Ein ganz normaler Typ: Ende dreißig, mit einer Menge Erfahrung auf dem Buckel. Wenn er sich recht erinnert, hatten Keay und Melanie zusammen in einer Klinik im Norden von England gearbeitet, bevor sie herkamen. Sie hatten beide unten angefangen und sich langsam hochgearbeitet. Niemand weiß genau, warum er Beechway letzten Monat verlassen hat. Angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Kam sehr plötzlich – er hat sich nicht mal verabschiedet. Gerade war er noch da, im nächsten Augenblick nicht mehr. AJ erinnert sich unbestimmt an eine Postkarte – mit einer sehr förmlichen Handschrift – von seiner Mutter: Danke, dass Sie meinem Sohn so großzügige Kollegen waren. Er wird Sie alle vermissen . Das hatte etwas von einem Trauerfall.
AJ hat – ohne konkret darüber nachzudenken – immer angenommen, Keay habe ein geheimes Privatleben, über das er nicht sprechen wollte. Das hat ihn nicht weiter interessiert, aber jetzt durchkämmt er jedes Wort, das der Mann jemals gesagt hat, und zwar im Kontext der Möglichkeit, dass Keays Geheimnis seine Affäre mit Melanie gewesen sein könnte. Vielleicht hatte
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