Die Puppenkönigin – Das Geheimnis eines Sommers (German Edition)
das Fenster herein, das sie offen gelassen hatten. Es war dunkel in den Gängen und jetzt begriff Zach, warum er den ausgestellten Vasen nicht mehr Beachtung geschenkt hatte. Die Vitrine war nicht beleuchtet. Er tastete sich an der Wand bis zu dem Lichtschalter vor und knipste die Beleuchtung an.
Plötzlich wurde es strahlend hell in der Vitrine. Das Porzellan war hauchdünn, praktisch durchsichtig und hatte die unglaublichsten Formen. Da waren Teekannen mit Girlanden aus winzigen perfekten Blümchen; Eierbecher aus Filigrangeflecht mit dem Vierpassmuster alter Kirchenfenster – ganz und gar aus glänzendem Gold. Daneben standen Vasen mit fein geformten Henkeln, deren Bauch zart mit Kirschblüten verziert war. Die Ausstellungsstücke schienen von innen zu leuchten, so dünnwandig und zart war das Porzellan.
Und diese Stücke sahen genauso aus wie in dem Traum von Eleanor, nur waren diese hier makellos.
Daneben hing eine Informationstafel mit der Schwarz-Weiß-Abbildung eines streng wirkenden Mannes vor dem Fluss im Hintergrund. Darauf stand:
Obwohl die amerikanischen Porzellanfabrikanten in East Liverpool um die Jahrhundertwende durchaus Erfolge verbuchen konnten, stellten sie noch keine ernsthafte Konkurrenz für ihre europäischen Kollegen dar. Vaterlandsliebe und Ehrgeiz trieben die Wilkinson-Clark-Porzellanmanufaktur an, etwas Besonderes zu erschaffen: ein neuartiges, außerordentlich feines Porzellan, mit dem das Unternehmen nicht nur mit anderen gleichzog, sondern sich als das Beste weltweit profilierte. Der Anspruch war hoch: Es ging um Kunst.
Orchid Ware war das Erfolgsprodukt zweier Männer: Philip Dowling und Lucas Kerchner. Dowling war Porzellantechniker und Spezialist für Lehm-Chemie. Er hatte enorm viel Erfahrung und setzte den Herstellungsprozess in Gang, mit dessen Hilfe Wilkinson-Clark ein extrem dünnwandiges Porzellan produzieren konnte, das dennoch über genügend substanzielle Festigkeit verfügte, um in großem Stil industriell hergestellt zu werden. Grund für die stabile Beschaffenheit des Porzellans war der hohe Anteil an Knochenasche aus Rinderknochen, die bei extrem hoher Temperatur entgeliert und dann kalziniert wurden.
Lucas Kerchner war der Künstler des Teams. Angeblich war es nicht leicht, mit ihm zusammenzuarbeiten, zumal er Untergebene gerne anschrie oder der Industriespionage beschuldigte. Doch gleichzeitig war er ein Genie, das Lehm Schönheit entlockte. Seine ruhige Hand, die ungeheure Kreativität und unendlich viele künstlerische Inspirationsquellen – Art Deco, die maurische, persische und indische Kultur sowie das englische und deutsche Porzellan seiner Kindheit – waren ihm behilflich, einzigartige Werke für Orchid Ware zu erschaffen. Sie waren ganz anders und viel zarter als jegliches Porzellan, das bis dato in East Liverpool angefertigt worden war. Kerchner arbeitete wie ein Besessener rund um die Uhr und verweigerte den Verkauf von Stücken, die nicht absolut perfekt waren.
Orchid Ware hatte auf Anhieb Erfolg. Seit die Werke bei der Weltausstellung in Chicago erstmals im Rampenlicht standen, wurden sie vielfach ausgezeichnet und verblüfften das internationale Keramikpublikum stets aufs Neue. Bei der anspruchsvollen Damenwelt jener Zeit herrschte rege Nachfrage und sogar die First Lady sicherte sich eins der Kunstwerke.
Doch trotz der hohen Bestellzahlen gelang es Orchid Ware nicht, gewinnbringend zu produzieren. Die Herstellung der Einzelstücke nahm zu viel Zeit in Anspruch und vieles wurde in den Brennöfen beschädigt, die für robustere Keramik gedacht waren. Andere Werke überstanden den Versand nicht unversehrt.
Auf jedes Stück, das heil blieb, kamen fünfzehn, die entweder kaputtgingen oder nicht in den Verkauf gelangten, weil ihnen irgendein Makel anhaftete.
Gleichzeitig wurde Orchid Ware von Wilkinson-Clark aus Prestigegründen gezwungen, auch bei Verlust weiterzuproduzieren, selbst wenn das Unternehmen zu viel Geld zuschießen musste.
Dann ereignete sich eine Tragödie. Im Spätsommer des Jahres 1895 verschwand Lucas Kerchners Tochter spurlos. Doch das Mitleid wich rasch dem Schrecken, als Blut und Haare in seinem Büro in der Fabrik und auf einer Lederschürze gefunden wurden, die sich in seinem Besitz befand. Man vermutete, er hätte seine Tochter umgebracht und sich ihrer Leiche mit der gleichen Methode entledigt, wie er die Rinderknochen kalzinierte. Dieser Verdacht stützte sich auf Berichte der Schwester seiner
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