Die Puppenmacherin: Psychothriller (German Edition)
Klassenzimmer saß und eine Haarsträhne durch ihre Finger gleiten ließ, ihr entrücktes Lächeln dabei, das Kopfschütteln, wenn sie plötzlich aufgerufen, aus ihrer eigenen Welt herausgerissen wurde. Und Vera hatte gehofft, irgendwann in dieses Phantasiereich vordringen, sich mit ihr rätselhafte Spiele ersinnen und damit die Nachmittage vertrödeln zu dürfen.
Einmal hatte sie all ihren Mut zusammengenommen, war auf sie zugetreten und hatte sie gefragt, ob sie nicht ihre beste Freundin werden wolle.
Josephin hatte die Stirn krausgezogen. »Die beste? Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt mit dir befreundet sein möchte.«
Nur um ihr daraufhin schnell die Hand auf den Arm zu legen: »Komm schon, sei nicht gleich beleidigt, wir können’s ja mal versuchen.«
Sie war so schön, aber nicht auf oberflächliche Weise wie viele andere Mädchen, ihre Schönheit hatte Charakter, dazu war sie auch noch gut in der Schule, trotz ihrer Geistesabwesenheit. Alles gelang ihr mühelos. Beim Sport rannte sie pfeilschnell, im Kunstunterricht malte sie farbrauschende Bilder, sie konnte Kopfrechnen und beherrschte die Grammatik, während sie selbst, Vera, in allen Fächern bloß Mittelmaß war.
Schon damals wusste sie, dass sie niemals so sein könnte wie Josie.
Und seit ihrem Unfall erst recht nicht.
Sie blickte durchs Fenster hinab in die nächtliche Siedlung. Ein einziges Auto fuhr die Straße entlang, ansonsten war alles tot.
So tot wie sie selbst, vom Becken abwärts. Sie rollte zurück an den Tisch, wo der Kommissar gesessen hatte.
Was war das nur für ein Leben, wenn lediglich der überraschende Besuch eines Polizisten für etwas Herzklopfen sorgte.
»Immer allein«, murmelte sie, »immer allein.«
In der Küche streckte sie die Hand nach dem niedrig hängenden Wandschrank aus und öffnete ihn. Da war die Flasche Likör, das Geschenk einer Frau aus der Selbsthilfegruppe für Querschnittsgelähmte. Sie dachte nicht gern an den trostlosen Abend mit ihr zurück, ihre weinerliche Stimme, das ewige Lamentieren über Schmerzen im Lendenwirbelbereich und wundgesessene Stellen am Hintern, die bitteren Klagen über den männlichen Anteil der Gruppe, der sich herzlich wenig für sie interessierte. Sie hasste diese Larmoyanz bei anderen Betroffenen, sie war ihr einfach zu vertraut.
Nach einigem Zögern nahm sie die Flasche heraus, holte sich ein Glas, schenkte sich ein und trank.
Es schmeckte klebrig und süß, aber die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.
Sie leerte das Glas, fuhr zurück ins Wohnzimmer und hielt vorm Fernseher an. Für ein paar Minuten verlor sie sich im Anblick einer Kochsendung im Spätprogramm, folgte den eintönigen Bewegungen eines Schneebesens, der in aufquellender Buttercreme rührte, und vor lauter Müdigkeit sank ihr der Kopf auf die Brust.
Sie schreckte hoch. Schlagartig kehrten die Gedanken an ihren Schwimmunfall zurück.
Die dunkle Zeit danach, Reha und Depression, der Umzug nach Rudow, ihre hoffnungslos überforderte Mutter.
Und Merten natürlich.
Der gute Merten, der sie im Rollstuhl spazieren fuhr. Merten, der dafür sorgte, dass sie von einem Fahrdienst zur Schule gebracht und wieder abgeholt wurde.
Und dann dieser Vorfall an einem Nachmittag. Der Fahrer hatte sie einfach vor der Haustür abgesetzt, trotz ihrer Beteuerungen, sie habe ihren Schlüssel vergessen und niemand sei in der Wohnung, der ihr öffnen könne. Das sei nicht sein Problem, hatte dieser Junker gesagt.
Sie hockte da in ihrem Rollstuhl, zu schüchtern, um bei einem Nachbarn zu klingeln, die einzige Behinderte weit und breit. Sie schämte sich dafür, dass sie anders war.
Immerhin fuhr sie ins Treppenhaus hinein, als es zu regnen begann, und wartete vor der Wohnungstür.
Wo war bloß ihre Mutter?
Vermutlich in einer der üblichen Kneipen. Sinnlos, sie zu suchen, sie würde erst spät in der Nacht aufkreuzen.
Lautlos weinte sie in sich hinein.
Endlich kam Merten nach Hause.
Noch am selben Abend ging er zu Junker, um sich bei ihm zu beschweren, sagte ihm, er hätte ihn zumindest anrufen und ihm Bescheid geben müssen, wenn seine kleine Schwester nicht in die Wohnung kam.
Was wäre sie nur ohne Merten.
Aus dem Fernseher drang Gelächter, der Koch hatte einen Witz gerissen. Sie verachtete die fröhlichen Gesichter auf dem Bildschirm und schaltete ab.
Fuhr zurück in die Küche und schenkte sich nach. Der Alkohol tat ihr gut, sie könnte sich daran gewöhnen.
Doch die Bilder in ihrem Kopf kamen nicht
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