Die Puppenmacherin: Psychothriller (German Edition)
zur Ruhe. Josies erstauntes Gesicht, als sie zu ihr in die Siedlung kam, vier Jahre nachdem sie die Schule gewechselt hatte. Ihr Blick auf den Rollstuhl, der mit bunten Speichenfolien dekoriert war, damit er nicht so trostlos wirkte.
»Oh, Vera, was ist nur passiert?«
Und sie hatte mit ihren vierzehn Jahren geantwortet, tapfer und verbissen wie eine Erwachsene: »Ach, weißt du, man muss sein Schicksal meistern.«
Und dann war Merten ins Zimmer gekommen und hatte sich zu ihnen gesetzt.
Ihr geliebter Bruder.
Sie stürzte den Likör hinunter, schüttelte sich.
Sie bräuchte mehr davon, um endlich vergessen zu können.
Auch diese Zeitungsnotiz vor einem Jahr.
Die seit zwei Tagen vermisste fünfundzwanzigjährige Josephin M. aus Berlin Neukölln ist in die Fänge eines Triebtäters geraten. Wie durch ein Wunder konnte sie gestern aus ihrem Verlies, dem Keller eines Reihenhauses in der Kanalstraße in Rudow, befreit werden. Karl J., 54, Besitzer des Hauses und mutmaßlicher Täter, wurde bei einem Autounfall schwer verletzt.
Sofort hatte sie geahnt, dass es sich um Junkers Haus handeln musste. Und um Josephin. Sie suchte sich ihre Nummer aus dem Telefonbuch heraus, und etwa einen Monat später, als Karl J. längst seinen schweren Verletzungen erlegen war, wagte sie es, bei ihr anzurufen.
Josie hob tatsächlich ab. Allein die Art, wie sie sich meldete, ihre raue Stimme, das leise Hallo, verrieten ihre Angst.
Und Vera legte wortlos wieder auf.
Auf der Küchenuhr war es kurz vor halb zwei. Ob sie in ihrem Zustand überhaupt noch Auto fahren konnte? Egal, sie musste es tun.
Sie nahm den Schlüssel von der Flurkommode. Ein scheuer Blick in den Spiegel, ein Griff in die Frisur, schon betätigte sie den Türöffner. Sie rollte hinaus, die Wohnungstür schwang hinter ihr zu.
Mit dem Aufzug fuhr sie hinunter zur Garage.
Sie schloss ihren zerbeulten Toyota auf. Nun kam der schwierigste Teil, sie musste sich aus dem Rollstuhl hochstemmen und hinüber auf den weit nach hinten geschobenen Beifahrersitz schwingen.
Im dritten Versuch gelang es ihr.
Mit einem Ruck ließ sich der Rollstuhl zusammenklappen, sie wuchtete ihn in den Fußraum, zog die Tür zu und hangelte sich unter Mühen hinüber zum Fahrersitz.
Sie verschnaufte kurz, dann drückte sie auf die Fernbedienung, um das Rolltor zu öffnen.
Vera Feil startete den Motor, legte den Hebel für die Automatik um, bediente das Handgas-Bremsgerät und fuhr hinaus in die Nacht.
Als Josephin wieder zu sich kam, hatte sie das Gefühl, die Decke habe sich herabgesenkt. Sie kniff die Augen zusammen.
Erst als sie sie wieder aufriss, sah sie, dass es keine Täuschung war. Die Luft wurde knapp, sie roch diese chemische Substanz, und sie hörte das Zischen.
Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich einzubilden, dies alles sei bloß ein Alptraum.
Und die jäh einsetzende Erinnerung traf sie wie ein Schlag.
Sie schluchzte auf, drehte vorsichtig den Kopf um.
Nein, durchfuhr es sie, nein!
Was sie neben sich sah, zog die letzte Wärme aus ihrem Körper.
Ihr wurde schwindlig, sie wollte schreien, doch die Schmerzen in ihrer Brust waren zu stark. Ihr Herz raste, während sie krampfhaft versuchte, Sauerstoff in die Lungen zu saugen.
Da verstummte das Zischen.
Es brauchte einige Zeit, bis sie sein Gesicht wiedererkannte. Tränen schossen ihr in die Augen, sie wollte ihn anflehen, sie gehen zu lassen, aber sie wusste, das würde alles nur noch schlimmer machen.
Ihre Angst feuerte ihn an, also brauchte sie eine andere Strategie.
Hände und Füße waren noch immer gefesselt, aber sie konnte die Fäuste ballen, sich die Fingernägel ins Fleisch graben. Wut könnte ihr helfen. Hass. Sie musste ihn verunsichern. Ihm beweisen, dass sie nicht das hilflose Opfer war.
Er beugte sich weit über sie und sprach wieder diese Worte zu ihr.
»Du bist nicht Karl«, stieß sie hervor. »Karl Junker ist tot!«
Sie bemerkte das Zucken um seine Mundwinkel.
Und noch einmal rief sie aus: »Du bist es nicht! Er ist tot!«
Er schwieg, krümmte die Schultern. Erst nach einer Weile redete er wieder mit dieser tiefen Stimme auf sie ein.
Eine Stimme, die ihm nicht zu gehören schien. Sie sprach aus ihm heraus.
»Nein«, schrie sie, »du nicht. Du bist nicht Karl. Begreif doch endlich, dass er tot ist.«
Es half ihr, sich mit Worten zu wehren, und es schüchterte ihn ein.
Plötzlich warf er sich neben sie auf den Boden und presste ihr die Hand auf den Mund.
Sie roch ihn. Seinen Atem, seine
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