Die purpurnen Flüsse
Si e wisse n etwa s – ohn e es z u ahne n – , wa s fü r unsere n Fal l extre m wichti g ist.«
»Wa s wolle n Si e den n …«
E r verstummte , rie b sic h hefti g di e Händ e wi e unte r einem plötzliche n Kälteschauer.
»N a gu t …« , sagt e e r dann . »Ic h soll t e woh l besse r gan z wach werden , oder?«
»Ic h denk e schon , ja.«
»Wolle n Si e Kaffee?«
Niéman s nickte . E r folgt e de m Patriarche n durc h eine n Flu r mit hohe n Fenstern . Hi n un d wiede r tauchte n Blitz e de n Korrido r i n ein gleißende s Licht , dan n senkt e sic h da s Halbdunke l wiede r herab, strukturier t durc h di e Regenschleier.
De r Kommissa r hatt e de n Eindruck , al s bewegt e e r sic h durch eine n Wal d phosphoreszierende r Lianen . A n de n Wände n gegenüber de n Fenster n bemerkt e e r ander e Muster , statisch e diesmal : E s waren Landschaften , wil d zerklüftet e Berg e un d pastellfarben e Flüsse, dazwische n riesig e schuppig e Tier e mi t Rückenstacheln , langen Hälsen , phantastische m Gehörn , di e au s eine r Zei t de r Felswüste n zu stamme n schienen , eine m Zeitalte r de r Unmäßigkeit , i n de m der Mensc h ei n Zwer g gewese n war . »Ic h dachte , Ih r Institu t kümmert sic h nu r u m blind e Kinder. « De r Direkto r blie b stehe n un d wandte sic h um . »Nich t nur« , sagt e er . »Wi r behandel n Patiente n mi t allen mögliche n Augenleiden.«
»Zu m Beispiel?«
»Juvénil e Forme n vo n graue m Star , Glaukome, Gesichtsfeldeinschränkungen , Agnosie n … « Mi t seine m mächtigen Zeigefinge r deutet e e r au f di e bemalt e Wand . »E s sin d merkwürdige Bilder , nich t wahr ? Unser e Kinde r sehe n di e Realitä t nich t wi e wi r – übrigen s nich t einma l ihr e eigene n Bilder . Ihr e Wirklichkei t sind wede r real e Landschafte n noc h das , wa s si e au f de m Malgrund darstellen , sonder n si e habe n si e i m Kopf . Nu r si e wissen , wa s sie ausdrücke n wollen , un d wi r Normalsichtige n könne n e s allenfalls ahnen , wen n wi r ihr e Bilde r betrachten . Da s is t aufregend , nicht wahr?«
Niéman s nickt e geistesabwesend . E r vermocht e kau m de n Blick vo n de n Bilder n z u wenden , s o schö n erschiene n si e ihm . Weiche Konturen , di e wi e bestäub t aussahen , erdrück t vo n Materie. Lebhafte , leuchtende , unvermischt e Farbe n zwische n scharfen Linien . Dies e Wandbilde r wirkte n au f ih n wi e de r Schauplat z eines Kampfe s zwische n For m un d Farbe , de r jedoc h ein e gewisse Sanfthei t erzeugte , di e Melancholi e alte r Abzählreim e fü r Kinder.
De r Direkto r klopft e ih m freundschaftlic h au f de n Rücken.
»Komme n Si e mit . De r Kaffe e wir d Ihne n guttun . Si e sehe n aus , als hätte n Sie’ s nötig.«
Si e betrate n ein e weitläufig e Küche , i n de r Einrichtun g un d Geräte allesam t au s rostfreie m Stah l z u bestehe n schienen . Di e blitzblanken Wänd e erinnerte n Niéman s a n di e Kachel n i n Leichenhallen.
De r Direkto r hatt e bereit s au s de r Glaskanne , di e au f der eingeschaltete n Wärmeplatt e eine r Kaffeemaschin e stand , zwei Beche r vollgeschenkt , reicht e eine n de m Kommissa r un d setzt e sich au f eine n de r Inox-Tische , un d wiede r mußt e Niéman s a n die obduzierte n Leiche n denken , a n di e Gesichte r vo n Cailloi s und Sertys . Leere , blutverkrustet e Augenhöhlen , wi e schwarz e Löche r in de r Zeit.
I n ungläubige m To n erklärt e Champelaz : »Ic h kan n imme r noch nich t fassen , wa s Si e mi r sagen . Beid e Männe r sin d tot ? Wi e is t das den n passiert?«
Pierr e Niéman s gin g übe r di e Frag e hinweg . »Wa s habe n Sie Joisnea u erzählt?«
De r Arz t zuckt e di e Schulter n un d lie ß de n Kaffe e i m Becher kreisen . »E r fragt e nac h de n Augenkrankheiten , di e wi r hier behandeln , worau f ic h ih m erklärte , da ß e s i n de n meiste n Fällen erblic h bedingt e Leide n sin d un d di e Mehrzah l meine r Patiente n aus Guerno n stammt.«
»Ha t e r noc h detaillierter e Frage n gestellt?«
»Ja . E r wollt e di e Ursach e diese r Leide n wissen , un d ic h hab e ihm ein e Kurzlektio n übe r rezessiv e Erbgäng e gehalten.«
»Erkläre n Sie’ s mi r auch.«
De r Direkto r seufzte , jedoc h ohn e Ärger , dan n began n er : »E s ist gan z einfach . Manch e Gen e sin d Krankheitsträger . E s sin d mutierte Gene , sozusage n Rechtschreibfehle r be i de r Vervielfältigun g der DNA , wi e si e be i un s alle n vorkommen .
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