Die Qualen der Sophora
stellte.
„NICHT!“
Wendy fuhr aus ihrer Ohnmacht hoch wie
eine Ertrinkende, die nur knapp den Fluten entronnen war. Atemlos schnappte sie
nach Luft, wehrte Nicos sanfte Hand aus einem Reflex heraus ab, da sie in einem
Zustand der Schwäche Berührungen eines Fremden nicht einmal annähernd ertrug.
Das konnte Nico aber nicht wissen.
Nein, das war nicht möglich... all die
Jahre... Nein....
Genauso wenig wie sie gewusst hatte, wer
vor etwas mehr als hundert Jahren ihr wahrer Retter gewesen war. Ein kurzer
Blick zur Seite genügte, um zu glauben, man müsste nach allem, was einem
widerfahren war, doch noch verrückt werden. Mit rot glühenden Augen sah sie Ash
an. Sie versuchte wütend zu sein, doch sie war viel zu überrascht und
geschockt. Das Feuer seines Blutrauschs, das auf sie übergegangen war als er so
gierig von ihr trank, erstarb in ihren Augen und verschwand in dem weißbunten
Nebel ihres Blicks.
Sie konnte es nicht fassen. Der Tiger, ihr Schutzgeist, der sie über die Jahre
hinweg begleitet hatte, dessen Bildnis sie im Nacken trug und der ihre bösen
Träume in etwas Gutes verwandelt hatte, sollte ER sein? In ihrer Ohnmacht hatte
sie erneut diese Vision gehabt und war sich nun gar nicht mehr sicher, was sie
davon halten sollte.
Nackt und bloß, mit diesem schläfrigen
Blick voller Reue und Schmerz glich er kaum mehr dem kühlen Warrior, der ihr
einen Schauer nach dem anderen über den Rücken gejagt hatte, weil sie sich
fürchtete, ihn durch ihre dreiste Art der Zuneigung, die sie sich nicht
erklären hatte können, zu verärgern.
Dabei gab es für alles einen Grund.
Für ihre Träume, ihre eigentlich nicht existenten Gefühle, die aufwallende
Erregung, wenn sie ihm gegenüber stand... all das nur, weil er... weil sie
beide...
Wendy scheute sich, diesen Gedanken über
Verbundenheit durch ihr Blut zu Ende zu bringen. Noch konnte sie nicht davon
sprechen, irgendetwas besiegelt zu haben. Es konnte auch wieder eines dieser
Hirngespinste sein, die sie sich einbildete. Schließlich hätte er sonst keinen
Grund gehabt, ihr etwas zu verheimlichen. Wenn ihm etwas an ihr lag, wenn ihrem
Vater etwas an ihr gelegen wäre, dann hätten sie längst offen mit ihr
gesprochen. Wendy empfand bodenlose Enttäuschung. Ihretwegen hätte sich niemand
zu irgendetwas verpflichten müssen, außer vielleicht dazu, die Wahrheit zu
sagen.
Vorsichtig richtete sich Awendela auf.
Nico versuchte zu helfen, doch sie wollte es unbedingt allein können. Dabei war
der Schmerz, der von der Wunde an ihrem Hals ausging, kaum zu ertragen. Sie
biss sich auf die trockenen Lippen, um nicht zu schreien und unterdrückte
ebenso das Stöhnen, das ihr trotzdem entweichen wollte. Halb aufgesetzt lehnte
sie gegen einen der unteren Schränke, der ihrem Rücken Halt gab. Nico und Ash
ließen sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Wendy wünschte sich, sie wäre
unsichtbar. Vor allem für ihn. Es war das zweite Mal, dass er sie so erlebte.
Schwach.
Wenngleich es ihr diesmal ohne seine
Hilfe besser gehen würde. Sie riss das blutverklebte Tuch, das Nico auf ihren
Hals gedrückt hatte, um die Blutung zu stoppen, herunter. Mit zitternden
Fingern betastete sie den Biss, der über dem Schnitt, den sie gesetzt hatte,
deutlich fühlbar war und ihr entfuhr doch ein kleiner Laut, in dem schon so
etwas wie Bewunderung für seine Durchschlagskraft steckte, mit der Ash die
Fangzähne in ihren Hals gegraben hatte. Unglaublich. Awendelas Wangen
glühten mit Hilfe des letzten Bisschen an Blut, das in ihr geblieben war.
Angst hatte sie bei dem Biss und dem
Anblick des Tigers keine verspürt. Nur ganz kurz nach dem Schnitt, weil sie
fürchtete, er könnte nie wieder zu sich kommen und dass sie zu lange mit ihrer
Spende gezögert hatte. Das hätten ihr seine Waffenbrüder niemals verziehen.
Schließlich war sie die Tri’Ora. Eigentlich hätte sie, nachdem was Winston ihr
damals angetan hatte, in schiere Panik ausbrechen müssen, doch ihr ging es
wider Erwarten relativ gut. Sie musste nur etwas trinken. Ihr geschwächter
Körper wurde immer noch von kleinen Zitterschüben heimgesucht, die vom hohen
Blutverlust herrührten. Ja, sie hatte Ash gerettet. Er würde mühelos und ohne
große Schmerzen ausheilen. Dafür würden ihr die Warrior sehr dankbar sein.
Doch wollte sie deren Dank überhaupt?
Konnte es dieses tiefe Gefühl der Verunsicherung in ihr drin eher lindern als
die Zugehörigkeit zur Tri’Ora? Wendy wusste darauf keine Antwort. Und wie sie
die
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