Die Qualen der Sophora
hielt geradewegs auf sie zu. Wendy hoffte, er würde nichts
Unüberlegtes tun, denn irgendwie beschlich sie das leise Gefühl, dass ihm das
nicht allzu gut bekommen würde.
„Wag es ja nicht, näher zu kommen,
Nathan!“
Tatsächlich hielt der Warrior verblüfft
inne, als er Wendys vollkommen verändert und überaus gefährlich klingenden
Tonfall wahrnahm, mit dem sie ihn auf Abstand zu halten gedachte. Was glaubte
sie denn? Dass er jubilieren würde, nachdem ihm bei ihrem Anblick
augenblicklich klar geworden war, was sie getan hatte?
Die Flecken auf ihrem Shirt sprachen Bände. Jemand hatte sie gebissen. In den
Hals und dieser jemand stand genau hinter ihr. Sie hatte ihn Nathan genannt.
Das tat sie höchst selten und eigentlich nur, wenn er irgendwie ihr Missfallen
erregt hatte. Also war sie dahinter gekommen, was sich am Tag ihrer Rettung
zugetragen hatte. Natürlich war es im Fall des Austausches nicht mehr zu
verbergen gewesen.
„Du weißt es also?“, fragte er und trat
trotzdem wieder einen Schritt auf seine Tochter zu, deren Warnung kaum ernst
gemeint gewesen sein konnte.
Wendy zitterte plötzlich wieder am ganzen
Körper, obwohl ihr nicht kalt war und ihre Augen tiefrot glühten. Trotzig schob
sie das Kinn vor, um ein bisschen ihres Stolzes zu wahren, von dem sie glaubte,
dass er ihr vollkommen abhanden ging, während sie heiße Tränen vergoss. Diesmal
konnte sie nicht dagegen anschlucken. Ihr Vater war einfach zu weit gegangen.
„Du hättest es mir sagen müssen! Wieso
hast du mir nicht gesagt, das er mich gerettet hat?“ Wendy machte eine
Andeutung mit dem Kopf, die in Ash' Richtung ging. Nathans Miene erstarrte und
wurde zur undurchdringlichen Maske. Er konnte es nicht mit ansehen, wenn seine
Tochter litt, jedoch befand er sich gerade kaum in der Position, sie trösten zu
dürfen.
„Das geschah alles nur zu deinem Besten,
Awendela!“
Wendy schnappte empört aufschluchzend
nach Luft: „Zu meinem Besten? Dad, du warst damals kaum in der Lage,
einzuschätzen, was für mich das Beste war! Du hast Winston in Stücke gerissen
und hinterher beinahe seine Mutter getötet. Ron hat dich gerade noch
rechtzeitig aufgehalten. Wie kannst du dir da anmaßen, zu wissen, was das Beste
für mich war?“
„Du weißt, dass ich Recht habe. Ich bin
immer noch dein Vater, Awendela. Sag mir nicht, du wärst glücklicher damit
gewesen, es von Anfang an gewusst zu haben. Ash hat vollkommen selbstlos und
ohne Hintergedanken gehandelt. Es hätte jeder sein können. Also auch ich.
Letztendlich spielt es keine Rolle. Es ging nur um dein Überleben.“
Nathan ließ sich nicht provozieren. Er
wusste ja, dass sie sämtliche Berichte und Aktennotizen zu ihrem eigenen Fall
gelesen hatte. Dort hatte alles bis auf das hier und heute sehr entscheidende
Detail gestanden. Er hatte selbst veranlasst, die Kopie für sie zu fälschen.
Auch dabei hatte er vorgegeben, sie schützen zu wollen. Sie hatte erst einmal
heilen und gesund werden müssen. Dabei sprach er nicht von ihren äußeren
Verletzungen sondern von ihrer Seele, die noch stärker gelitten hatte als ihr
Körper. Er wollte nicht, dass sie sich aus Dankbarkeit zu dem Warrior
hingezogen fühlen musste. Er wollte nicht, dass sie sich band, obwohl sie noch
nicht bereit dazu war. Sie hatte gerade ihre Mutter verloren und eine
verhängnisvolle, falsche Entscheidung getroffen. Wer wäre er gewesen, sie
gleich in die nächste Dummheit zu schicken, die damals allerdings noch kein
Thema gewesen war? Das hätte sie ihm niemals verziehen, wenn sie nach Winston
nicht zu ihrem Lebensglück zurück gefunden hätte. Diese kleine Lüge dagegen
würde mit der Zeit vergessen sein. Da war sich Nathan ganz sicher.
Wendy dagegen hatte nicht vor, ihre Wut
und Enttäuschung so schnell aufzugeben. Ihr Vater glaubte, es wäre nicht weiter
tragisch, hundert Jahre bis zur Zufallseröffnung gewartet zu haben, doch da
täuschte er sich gewaltig.
„Für mich spielt es aber eine Rolle, Dad! Ich hatte Visionen, ich habe...“
Wendy drehte ihm kurz den Rücken zu, um die Haare aus dem Nacken zu streichen
und Nathan das Tattoo zu zeigen, das er bisher noch nicht kannte.
„...gedacht, der Tiger wäre mein Schutzgeist. Ich habe mich an dieses Bild
geklammert, weil es das Einzige war, was meine Alpträume verhinderte. Immer,
wenn ich von ihm träume, riecht es nach Meer und Pfefferminz. Weißt du, was für
ein Schock das war, als ich heute aus meiner Ohnmacht aufgewacht bin, nachdem
Ash von mir getrunken
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