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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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ihn wachten, vor und zurück. Endlich sagte er zu Abisag: »Hol mir die Leier.« Aber als er das Instrument in die Hand nahm, das er einst vor König Saul gespielt hatte, schlug er es nicht, wie es Gerschom getan hatte. Er ließ seine müden Hände ziellos über die Saiten gleiten und schlug Akkorde an, ohne Melodie, ohne Rhythmus. Und sang er einen Psalm, den er vor vielen Jahren gedichtet hatte und sich in seinem Alter immer wieder ins Gedächtnis rief:
    »Du,
    nimmer strafe in deinem Zorn mich,
    nimmer züchtige in deiner Glut mich!
    Leih Gunst mir, Du, denn ich bin erschlafft,
    heile mich, Du, denn mein Gebein ist verstört, und sehr verstört ist meine Seele.
    Du aber, Du, bist wann noch -!
    Kehre wieder, Du, entschnüre meine Seele, befreie mich deiner Huld zu willen!
    Denn im Tod ist kein Deingedenken, im Gruftreich, wer sagt dir Dank?«
    David sang seine Klage von den Schwächen des Menschen, er sang von dem Zorn, der ihn so oft in seinem bewegten Leben überfallen hatte. Die vier, die hier beieinander saßen, diese vier so verschiedenen Menschen, die zusammengekommen waren, um mit Jahwe zu reden - der weißhaarige König, der Ehebruch und Mord begangen hatte; das zarte Kind, das man gewissenlos dazu ausersehen hatte, als Tröstung für den alten Mann seine letzte Bettgenossin zu sein; die treue Gattin, die jetzt einen der wirklich Guten in Israel hintergangen und verlassen hatte; und der Fremde, von dessen Missetaten niemand wußte -, in dieser Nacht standen diese vier, die Jahwe suchten, für die zukünftigen Geschlechter in aller Welt, deren Schmerzensschrei der gleiche sein würde. Der jüdische Glaube, wie König David ihn ererbt hatte, war oft kalt, hart, fast abschreckend gewesen, aber gerettet hatte diesen Glauben der Aufschrei menschlichen Leidens, den David nun ausstieß, wie Gerschom ihn einst auf den Bergen ausgestoßen hatte. Fern allem Irdischen und verborgen war Jahwe; hier, in der Gegenwart des nächtlichen Zimmers, war ein menschliches Herz, nahe dem Ende der ihm zugestandenen siebzig Jahre; und zwischen beiden entspann sich im Lied ein leidenschaftliches Zwiegespräch:
    »Allnächtlich schwemme ich mein Bett, meinen Pfühl flöße ich mit meiner Träne,
    stumpf ward mein Auge von dem Gram, stierend auf all meine Bedränger.
    Weichet von mir, ihr Argwirkenden alle, denn gehört hat E r die Stimme meines Weinens.«
    So klagte David, und seine nächtlichen Zuhörer fühlten den Schmerz des über seine Rachsucht klagenden alten Königs wie ihren eigenen Schmerz. Und dieser Aufschrei - er gehörte von nun an gleichermaßen zum jüdischen Glauben wie die strengen Gebote.
    Kerith sah Wiedehopf nicht mehr. Sie verbrachte die Nacht in dem Schuppen beim Wolladen, und am Morgen, als der königliche Zug nach Süden aufbrach, über Megiddo nach Jerusalem, war auch sie auf dem Weg in die Stadt, die zu sehen sie so fest entschlossen gewesen war. Gerschom, der Ausgestoßene, stieg zu hohen Ehren auf: Er wurde in Jerusalem zum Aufseher der Sänger und Spielleute des Königs. In dieser Eigenschaft wies er auch die Schreiber an, die vielen Gesänge des Königs auf Tontäfelchen aufzuzeichnen; in die Sammlung wurden auch nicht wenige von Gerschom selbst stammende aufgenommen. Mit der Zeit wurden sie als Tehillim - Lobgesänge - Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes, und als Psalmen und Choräle leben sie in der Liturgie aller christlichen Kirchen für immer fort. Denn überall erkannten die Menschen in den Worten dieser Psalmen ihr eigenes Sehnen nach Gott wieder.
    Ganz anders war Wiedehopfs Schicksal. Als König David nach Jerusalem zurückkehrte, ohne den Stollen besichtigt zu haben, stand auch der Baumeister auf der Stadtmauer inmitten der Bürger, der Bauern und der Phönizier aus den Färbereien, die dem großen König Lebewohl nachriefen. Er aber jubelte nicht - sein Herz war gebrochen. Vergeblich versuchte er, Kerith zu entdecken; doch sie hielt sich inmitten der zahlreichen Begleitung des Königs verborgen. Auch David zeigte sich nicht, ebensowenig Abisag oder Gerschom: Die vier verschwanden aus seinem Leben wie Geister, die in einer stürmischen Nacht gekommen sind, um Schrecken zu verbreiten und sich im Morgendämmern verflüchtigen.
    Eine ganze Zeit wußte er nicht einmal genau: Waren die vier überhaupt dagewesen? Waren sie fort? Hilflos stand er allein. Der Statthalter, eingedenk der Schmähungen, die Wiedehopf beim Tod des Moabiters dem König ins Gesicht geschrien hatte, lehnte es ab, den

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