Die Quelle
Tarphons Worte nach. Aber er kam zu keinem anderen Ergebnis als dem, daß das Unsinn sei - eine am Gelenk abgebrochene Hand konnte ihm keine solche Vorstellung vermitteln. Er sah nur eine Hand, die einen ihm völlig unbekannten Gegenstand hielt. Das war alles. »Was hält er in der Hand?« fragte er. Tarphon war verblüfft. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß ein erwachsener Mensch keinen Schaber kannte. Er ließ deshalb einen Sklaven den von ihm in der Ringerhalle zurückgelassenen Schaber holen und reichte ihn dem Juden.
»Könnt Ihr nicht erraten, wofür der ist?«
Jehubabel studierte einige Augenblicke den metallenen Gegenstand, konnte jedoch nicht ergründen, wozu der gut sein sollte. »Er hat eine stumpfe Spitze, vielleicht wird er zum Graben gebraucht«, meinte er.
»Man schabt damit die Haut sauber«, erklärte Tarphon. Jehubabel sah ihn mit erstaunt fragendem Blick an, so daß der Statthalter unsicher wurde. »Nach athletischen Wettkämpfen«, setzte er etwas lahm hinzu. Man müßte es dem Juden vormachen, dachte er, auf der bloßen Haut. Aber wo? Außer den Händen und dem bißchen Gesicht ist doch alles von Gewand und Bart bedeckt! Und dieser Jehubabel ist bestimmt nicht gewillt, auch nur einen Teil seines Körpers zu entblößen. Einen Augenblick lang waren beide verlegen. Um dem Juden aber doch klarzumachen, wozu der Schaber diente, schlug Tarphon das eine Ende des übelriechenden Mantels beiseite und strich mit dem sichelförmigen Gegenstand über seine nackte Hüfte. »Das ist sehr erfrischend«, sagte er. Aber der Jude sah Tarphon an, als habe der den Verstand verloren. Der Statthalter gab es auf. Aber nun ärgerte sich Tarphon, daß das Gewand so roch. Deshalb legte er es ganz ab, streckte sich, während Jehubabel immer noch kopfschüttelnd die Marmorhand studierte, auf einer Bank aus und rief nach seinem Sklaven, er solle einen Krug warmes Öl bringen. Als es da war, begann der Sklave, Tarphons Körper einzureiben und zu massieren. Aromatischer Duft breitete sich im Raum aus. Wohlig atmete Tarphon ihn ein - welch schöner Abschluß der athletischen Übungen! »Dieses Öl ist der einzige Luxus, den ich mir erlaube«, erklärte Tarphon seinem Freund. »Es wird in Makedonien hergestellt; schon in Athen habe ich es benutzt.«
»Der Duft einer Rose und der Geschmack einer Traube halten nicht bis morgen an«, bemerkte Jehubabel. Tarphon zuckte zusammen: Das einzig Unangenehme an diesem Juden, mit dem ich doch sonst so gut auskomme, ist dieses ständige Herunterleiern alberner Sprüche, zu denen er immer dann seine Ausflucht nimmt, wenn er sich Dingen gegenübersieht, von denen er nichts versteht. So war es in der Tat: Jehubabel galt in Makor als weiser Mann; aber nie bezog er sich auf die großen
Schriften des Judentums. Ging es um geistige Dinge und zitierte man ihm aus den Werken von Plato und Aristoteles, so entgegnete er niemals mit Worten von Juden gleicher Bedeutung. Immer war es irgendein mehr oder weniger abgeschmacktes Sprichwort, aufgelesen von irgendeinem Acker oder hergeholt aus einem Pferch, in dem man die Schafe schert. Und das war nun der Mann, der die Juden von Makor als ihr Sprecher vertrat! Vor ein paar Jahren, als Tarphon seine Zusage gegeben hatte, den Juden Schutz zu bieten vor den Gesetzen des Antiochos, hatte Jehubabel den schönen Spruch aufgesagt: »Ein Freund ist ein Freund für alle Zeiten, und Brüder werden geboren für kommende Schicksalsschläge.« Und im Jahr darauf, anläßlich der schärfer werdenden Gesetze: »Wen die Götter lieben, den strafen sie, wie auch ein Vater seinen Sohn zurechtweist, der sein Entzücken ist.« Jede Unterhaltung mit Jehubabel mußte für einen Mann von Geist, wie es der Statthalter Tarphon war, auf die Dauer langweilig werden. Oft genug schon hatte er, der sich ganz als Grieche fühlte, gehofft, der Sprecher der Juden möge doch endlich einmal seine Edelsteinchen an Weisheit vergessen und sich mit den Tatsachen befassen, wie sie wirklich waren.
Aber warum gab Tarphon sich überhaupt solche Mühe mit Jehubabel? Weil er den Juden in all dem Getriebe von Ptolemais und Makor als den einzigen vollkommen ehrlichen Mann kennengelernt hatte, der ihm begegnet war. Er wollte nichts vom Statthalter und nichts von dem Gymnasiarchen, er redete keine Schmeicheleien daher, stand zu seinem Wort und arbeitete hart zum Wohle der Stadt. Er bezahlte seine Arbeiter an den Färberküpen anständig, erzog seine Kinder ordentlich und nahm seine
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