Die Quelle
Halle leerte sich. Auch die Schmeichler gingen, um an anderer Stelle weniger wichtigen Leuten Honig um den Mund zu schmieren. So blieb Tarphon allein, völlig nackt, nicht einmal den Schaber in der Hand. Die Tür öffnete sich, und es erschien der hier gänzlich fehl am Platz wirkende Jehubabel, bärtig und von oben bis unten unordentlich in sein Gewand gehüllt. Die beiden Männer blickten einander an. In ihnen verkörperte sich die Auseinandersetzung, die heute ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte: Tarphon, von dessen Vorfahren die Mauern von Makor errichtet worden waren und der sich doch ganz als Grieche fühlte, ein nackter Athlet, dem sein Körper als Tempel galt; und Jehubabel, der sich ewig gleichbleibende Jude, der nicht die geringste Vorstellung vom Geist Griechenlands hatte und den nackten Körper als eine Beleidigung seines Gottes JHWH empfand. Jehubabel dachte angesichts des unbekleideten Gymnasiarchen an ein Sprichwort seines Volkes: »Nur ein Narr findet Gefallen an der Schnelligkeit eines Pferdes oder der Kraft eines männlichen Beines.« Die wenigsten Juden von Makor kümmerten sich nicht um das Gymnasion und die dort geübten heidnischen Sitten. Tarphon, der wußte, wie sehr Jehubabel den Anblick der Nacktheit verabscheute, nahm deshalb Rücksicht auf den Älteren, griff nach einem Gewand, das einer der Ringer zurückgelassen hatte, und warf es über die Schultern. Aber sofort bedauerte er es, denn das Gewand war ihm zu lang, so daß er darin ungelenk aussah, was er gar nicht war - und es roch, so daß er sich unsauber vorkam, was er nie war. Doch er hatte es nun einmal angetan und konnte es nicht gleich wieder ablegen; so wickelte er sich hinein und ging voran in sein Zimmer. Jehubabel hatte kaum die Atmosphäre der Nacktheit im Ringersaal hinter sich, als er die Statue des Antiochos Epiphanes als Diskuswerfer sah. Dieser Koloß von weißem Marmor mit dem angeblich gottähnlichen Haupt und den riesigen Genitalien stieß ihn ab - hatte nicht dieser Wahnsinnige die unglaublich rohe Hinrichtung heute befohlen? Hatte er nicht verfügt, ihn auf solche Weise darzustellen, weil er beides zugleich sein wollte: der göttlich Offenbarte und der nackte Diskuswerfer? Der Jude war angewidert. Aber er konnte und wollte nichts sagen, denn seit einiger Zeit schon hatte er seinen Freund Tarphon im Verdacht, er hoffe, eines Tages in Makor durch eine ähnliche Statue geehrt zu werden. Während er diesem nackten Antiochos den Rücken kehrte, dachte er: Wer vermag schon einen Griechen zu verstehen?
Tarphon führte ihn in den kleinen Raum. Dort lagen auf dem Tisch die Blätter seines Berichts, beschwert durch einen Gegenstand, der Jehubabel sehr merkwürdig anmutete: eine lebensgroße Hand aus Marmor. Sie war am Gelenk abgebrochen und hielt ein Instrument, das der Jude noch nie gesehen hatte. »Wie ist die Statue zerbrochen?« fragte er.
Tarphon lächelte nachsichtig. Genau so eine Frage konnte man von einem Juden erwarten! Gewiß - er fand die Juden von Makor fleißig und ordentlich; aber von Schönheit hatten sie offensichtlich keine Ahnung: Die Griechen waren gerade zehn Jahre in Makor gewesen, als sie auch schon mit dem Bau des Zeustempels begonnen hatten, und dieser Tempel war schön; die Juden hingegen gaben sich nach wie vor mit ihrer häßlichen Synagoge zufrieden. Die Griechen liebten Seide, liebten den Marmor, der sich so wunderbar kühl anfühlte, sie liebten den Duft von Gewürzen und den Wohlklang lyrischer Dichtung; die Juden hingegen blieben ein Bauernvolk, dem jede Schönheit und jeder Luxus gleichermaßen abstoßend war. Herablassend erklärte Tarphon, daß keine Statue zerbrochen sei. »Der Künstler hat die Hand einfach so gemeißelt«, sagte er. »Warum?« fragte Jehubabel.
»Das Wenige zeigt das Ganze«, antwortete Tarphon. Als Jehubabel ihn verständnislos ansah, setzte er hinzu: »Wenn man das Fragment betrachtet, kann man sich die ganze Gestalt vorstellen.«
»Aber wenn er Euch die ganze Gestalt sehen lassen wollte, warum hat er sie dann nicht in Marmor gemeißelt?«
Tarphon war irritiert, aber auch belustigt: »Habt Ihr je im Frühling einen einzigen Biß in eine Damaskuspflaume getan? Und war der nicht so gut, daß Ihr alle Pflaumen des ganzen Jahres schmecken konntet?«
»Ich esse keine Pflaumen«, sagte Jehubabel.
»Aber diese Skulptur? Ruft sie Euch nicht den ganzen menschlichen Körper ins Gedächtnis?«
Der rundgesichtige Jude sah mißtrauisch auf die Marmorhand und dachte über
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