Die Quelle
begreifen. Er verabschiedete sich und ging durch die Abenddämmerung die breite Straße zum Zeustempel hinauf, wo er wider Willen das übermächtige Haupt des Mannes ansehen mußte, der sich als Gott ausgab; das Götzenbild war von einer ständig brennenden Öllampe erleuchtet. »Eitelkeit der Eitelkeiten«, murmelte er ein altes Sprichwort. Dann kam er an der Stelle vorbei, wo der Alte ausgepeitscht worden war; sie war noch immer feucht von Blut. Ein paar Augenblicke verharrte er im Gebet, dann wandte er sich ostwärts, um die Hauptstraße hinabzugehen. In den zahlreichen Läden wurden Waren aus allen Teilen der Welt angeboten: blitzender Zinnschmuck aus Britannien, silberne Halsketten aus Spanien und blinkende Kupfertöpfe aus Zypern, Gold aus Nubien, Marmor aus Paros und Elfenbein aus Indien, Leckerbissen aus Ägypten, scharfgewürzter Käse aus Athen, Feigen in Honig aus Kreta, Zimt aus Afrika und Balsam aus Byzanz.
»>Es ist alles ganz eitel<«, zitierte Jehubabel, diesmal wieder den König Salomo, während er sich der Synagoge unterhalb der östlichen Mauer näherte. Die Läden hatten ihm nie behagt; sie waren im Besitz von Fremden, denn die Juden, bäuerlich wie ihr Land, hielten nicht sonderlich viel von Handel und Geldgeschäften, und Erfahrung darin besaßen sie auch kaum. Ihr Denken und Handeln galt viel mehr dem Weizenfeld, dem Olivenhain, dem Weinberg, der Herde, allenfalls der Färberei, wenn man einmal von den Nachfahren derer absah, die sich während der Babylonischen Gefangenschaft handwerkliche Fertigkeiten angeeignet hatten, wie es etwa die Goldschmiede waren, die auch jetzt noch dieses Handwerk betrieben. Doch es waren nicht die Läden mit ihrem verlockenden Angebot, die Jehubabel über die Eitelkeit nachdenken ließen; es war sein Sohn Menelaos. Benjamin hieß er eigentlich, aber wie viele junge Leute unter den Juden des Seleukidenreiches hatte auch er schon früh den griechischen Namen angenommen, unter dem man ihn allgemein kannte. Hochaufgeschossen, während sein Vater untersetzter war, kräftig im Gegensatz zu seiner zierlichen Mutter, war er bald den Griechen aufgefallen. Sie hatten ihn in ihre Schule geholt und zu ihren gymnastischen Spielen; hier wie dort tat er sich durch gute Leistungen hervor. Nun, da er seinen jüdischen Eltern entfremdet war, verbrachte er den größten Teil des Tages im Gymnasion und viele Abende im Palast, wo er erfuhr, was griechische Kultur bedeutete. Wie der Gymnasiarch Tarphon, mit dem er sich häufig im Ringen übte, fand er allmählich die Sprüche seines Vaters langweilig; und wie Melissa, Tarphons kluge Frau, glaubte er, die altmodischen Gewohnheiten der Juden nicht ernstnehmen zu müssen. Wenn alles seinen rechten Gang nahm, war Menelaos mit dreißig kein Jude mehr. Das Reich des Antiochos Epiphanes brauchte fähige Leute. Wahrscheinlich diente er dann dem Reich in Gebieten, in denen es keine Juden gab.
Nicht nur mit begabten Juden hielt man es unter den Seleukiden so, sondern auch mit Persern und Parthern: Man bot ihnen jeden Vorteil, damit sie vergaßen, woher sie stammten, und richtige Griechen wurden. Wenn Menelaos mit Tarphon rang, wenn er von ihm aus erster Hand die Grundsätze griechischen politischen Denkens lernte, wenn er unter Tarphons oder Melissas Anleitung den Reichtum griechischen Geisteslebens entdeckte, dann wurde die Verlockung immer stärker, sich von dem doch veralteten Judentum abzuwenden wie die vielen anderen, die der Synagoge den Rücken gekehrt hatten und Hellenen geworden waren. Ein Narr verachtet die Lehren seines Vaters, grübelte Jehubabel traurig, während er seinem Hause zuschritt, das unmittelbar neben der jetzt leeren Synagoge stand. Aber am Eingang zur Synagoge zog ihn ein kleiner, hagerer Mann, in dessen Gesicht die hervorquellenden Augen auffielen, am Ärmel und sagte: »Jehubabel, ich muß mit dir sprechen.« Es war Paltiel, ein Bauer. Nicht viel mehr als ein paar Schafe besaß er, und er war ganz gewiß nicht einer, dem man nun gerade viel zutraute. Nun aber zerrte er an Jehubabels Ärmel und sagte die Worte, die unabsehbare Folgen haben sollten: »Mein Sohn ist jetzt acht Tage alt.« Jehubabel zitterte am ganzen Leibe. Im Gymnasion hatte er Tarphon versprochen, daß es zu keinen Schwierigkeiten kommen werde. Und jetzt diese Worte! Der wohlbeleibte Färber begann zu schwitzen.
Ganz langsam sagte er: »Paltiel, warst du heute bei der Hinrichtung?«
»Ich habe nur vier Ellen von dem alten Mann entfernt gestanden.
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