Die Quelle
diese stämmige Frau aus einfachsten Verhältnissen wichtiger, sie und dieses derbe, Arrak saufende, so vergnügte und vitale Volk? Der mondgesichtige Schwachsinnige blickte nach hinten und klatschte unbeholfen in die Hände, worauf eine Frau erneut das arabische Kriegsgeschrei anstimmte und ein Lärm anhob, der für diesen Tag nicht mehr enden sollte. Hier fand nicht ein Ausflug zur Höhle des Elia statt, sondern eine Fahrt zu einem Ort ferner Vorzeit, vielleicht in die Zeit des Propheten Elijahu selbst, und wenn Cullinane nicht das Glück gehabt hätte, daran teilnehmen zu dürfen, wäre ihm ein wichtiger Aspekt des Judentums fremd geblieben.
»Ich werde es nie verstehen, was mit uns passiert ist«, sagte Schulamith auf Spaniolisch. Sie kaute mit vollen Backen ein riesiges Sandwich und drängte auch Cullinane eines auf. »Meinen Sie die Juden?« fragte er.
»Nein«, erwiderte sie. »Die Sefardim. Seit 1500 haben wir an erster Stelle unter den Juden in Israel gestanden. In Zefat, in Tiberias, in Jerusalem - überall zählten wir, 1948, bei der Staatsgründung, waren noch immer wir stärker an Zahl, aber die, die uns führen, haben es stets an Kraft fehlen lassen. Schon 1949 hatten die Aschkenasim alle wichtigen Stellen besetzt. Und seitdem ist es mit jedem Jahr schlimmer geworden.«
»Ist da etwa bewußte Diskriminierung im Spiel?«
Schulamith überdachte die Frage eine Weile, drehte sich zur Seite, um wieder einmal in das Kriegsgeschrei einzufallen, das Cullinanes Trommelfell gefährlich zu werden drohte, und antwortete dann in englischer Sprache: »Ich möchte es nicht gern annehmen. Aber die Zukunft des Landes macht mir Sorge.«
»Fühlen Sie sich ausgeschlossen? Sie, die Sefardim allgemein?« Schulamith stieß einen wilden Schrei aus und fragte dann unvermittelt: »Sie sind doch kein
Zeitungsschreiber, oder?«
»Archäologe«, versicherte Cullinane beruhigend.
»Denn hier geht es um ein rein israelitisches Problem«, sagte sie nachdrücklich. »Wir brauchen keinen Rat von Außenstehenden.«
»Ich werde Ihnen auch keinen erteilen«, versprach Cullinane. Sofort begann Schulamith wieder: daß zwischen Aschkenasim und Sefardim so wenig gesellschaftlicher Kontakt bestehe, daß es nur selten zu Heiraten zwischen ihnen komme. daß die guten Plätze in den Kliniken immer nur die Aschkenasim bekämen. daß Betriebe, juristische Berufe, Presse, Ministersitze. daß alles, alles den anderen Vorbehalten bleibe.
»Ich bezweifle, daß es so schlimm ist, wie Sie sagen«, wandte Cullinane ein. »Aber nehmen wir einmal an, die Hälfte treffe zu. Bei wem liegt die Schuld?«
»Wir reden hier nicht von Schuld, sondern von einer Tatsache. Und wenn es so bleibt, wird es schlimm werden mit unserem Land.«
»Aber wie sind Sie nur in diese Situation geraten?«
»Machen Sie bloß nicht die Sefardim dafür verantwortlich!« protestierte sie. »Ich mache niemanden verantwortlich.«
»Denn in Amerika - da habe ich nämlich früher gearbeitet -haben die Aschkenasim ihre eigenen Sorgen. Ein deutscher Jude wird seiner Tochter niemals erlauben, einen Galizier zu heiraten.«
»Was ist ein Galizier?«
»Ein Jude aus Polen. Aus der schlechtesten Gegend.« Aber Cullinane hatte den Eindruck, daß auch Schulamith niemals einen »Galizier« heiraten würde. Was sich dann bei und in Elijas Höhle abspielte, die hoch in einem Berg über der Bucht von Haifa lag, war Abschluß und Krönung der Feier in der Synagoge und der Fahrt mit dem Bus. Tausende, in der Mehrzahl Sefardim, quälten sich eine sehr steile Anhöhe hinauf zu einer Reihe von Gebäuden, die bestenfalls zweihundert Menschen fassen konnten. An einem dieser Häuschen, einer wackeligen Angelegenheit, war zu lesen:
WEGEN BAUFÄLLIGKEIT BITTE NICHT BETRETEN!
Auf seinem Dach kauerten etwa dreihundert Kinder. Doch weit überraschender war der Anblick der vielen alten Männer und Frauen, die in mystischer Frömmigkeit zur Höhle gekommen waren und im Sonnendunst schrien und beteten. Einige lagerten auf dem Erdboden; schon seit zwei Tagen waren sie hier oben. Andere hatten sich unter Dachvorsprüngen des baufälligen Hauses eingenistet, während Tausende hin- und herliefen, schmerzlich erregten Reden zuhörten, in denen alte Männer vom Leben des Elia berichteten und vom Niedergang der Sefardim. Es war ein hemmungslos wildes Volksfest, bei dem frommer Glaube und munteres Biertrinken, Trauer und Freude verwirrend durcheinandergingen. Die eigentliche Bedeutung dieser Feier aber
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