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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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anstimmen, wenn sie ihre Männer beim Kampf oder bei einem Massaker anfeuern wollen.« Sie legte ihren Kopf zurück und gab eine markerschütternde Probe ihres Könnens. Die anderen Frauen fielen ein. Dann schob Schulamith Cullinane einen vollen Teller in die Hand und sagte: »Heute ist ein Freudentag. Essen Sie!« Und während Cullinane aß, erhob sie abermals ihr Kriegsgeschrei.
    »Wenn ihr beten wollt«, brüllte der Synagogendiener in spaniolischer Sprache, »so geht hinein. Ihr Kleinen!« fügte er auf Hebräisch hinzu, »Schluß jetzt. Wir wollen Ruhe haben hier.« Sechs Männer begannen »Ruhe«! zu donnern; einer verlegte sich darauf, die größeren Jungen auf den Kopf zu hauen, was diese sofort bei den jüngeren und die jüngeren bei den Mädchen wiederholten. »Ruhe!« bellte der Synagogendiener und wischte sich über sein dampfendes Gesicht. Erneut schrien auch die sechs anderen um Ruhe.
    Aber der Lärm nahm nur noch mehr zu. Der Gesang wurde fortgesetzt, die Frauen schrien in diesem Tollhausgetriebe ihren Schlachtruf, wobei sie ihre Zungen mit faszinierender Schnelligkeit trillern ließen. Der Schwachsinnige verschüttete den Inhalt einer Limonadenflasche über seine Kleider, aber ein uralter Mann mit langem weißem Bart säuberte ihn mit seinem eigenen Ärmel. Abermals die Rufe nach Ruhe. Ein Junge schlug ein Mädchen so sehr, daß es zu weinen anfing, woraufhin die beiden betroffenen Mütter ihre Sprößlinge herzhaft verdroschen; hiernach nur noch ersticktes Schluchzen. Ein alter Rabbi begann eine Rede, der in der Vorhalle niemand und in der Synagoge nur wenige zuhörten.
    »Ruhe!« brüllte der Aufseher, aber da war schon eine der Frauen mit einem Tablett erschienen, auf dem kaltes Bier und eine Flasche Arrak standen. Die Flaschen gingen von Mund zu Mund, während der Rabbi weiterdröhnte. Cullinane, dem es schien, als enthalte jeder zweite Satz das Wort Sefardim - der Alte sprach es wie Sfarndim aus - gab sich die größte Mühe, mit seinen Hebräisch-Kenntnissen den Worten des Rabbi zu folgen. Und dabei dachte er: Eliav und Vered behaupten, die Sefardim besäßen keinen ernsthaften Grund zur Beschwerde; aber sie sollten diesem da einmal zuhören. Es war eine Wehklage, wie sie ein Rabbi tausend Jahre früher hätte erheben können - allerdings war das Wort Sefardim damals gerade erst aufgekommen. »Wo sind die, die uns führen?« jammerte der alte Mann. »Warum lassen wir uns von ihnen solchermaßen mißbrauchen?« Wäre nicht das Bierschlürfen gewesen, das Kindergeschrei, der würgende Geschmack des puren Arrak, das Gekreisch der Frauen, das fortgesetzte Gebell des Synagogendieners, so hätte die Ansprache eines gewissen Pathos nicht entbehrt. In dieser Umrahmung kam sie lediglich einer Formel gleich: »Was ist unseren teuren Sefardim geschehen?« Was, ja wahrhaftig: Was?
    Als der alte Mann seine Rede beendet hatte, holten der Synagogendiener und seine Helfer aus dem Schrein vier Thorarollen, die in schönen, mit silbernen Hörnern verzierten Holzkästen lagen. Die Prozession stellte sich auf, schreiende Frauen, brüllende Männer, der tanzende Schwachsinnige und bärtige Alte. Sie alle zogen nun durch die uralten Straßen von Akko und stimmten eine Litanei an, die allmählich geradezu hypnotisierend wirkte. »Welches Volk ist es, das dem HErrn dient?« rief ein Mann. »Israel!« schrie die Menge. »Israel, Israel, Israel!« wiederholte sich der Schrei, hundertmal, tausendmal.
    Die Prozession zog nur ein paar Straßen weiter, bis zu einer Stelle, wo einige Omnibusse standen. Das Einsteigen war ein Musterbeispiel von Raserei; Cullinane blieb schreckhaft verzaubert stehen und sah zu. »Kommen Sie, kommen Sie!« rief Schulamith und zerrte den Professor hinter sich her. »Ich kann aber meinen Freund nicht im Stich lassen«, protestierte Cullinane. »Wer ist das?« schrie die Dicke. »Dschemail Tabari.«
    »Den kennen hier alle. Du da!« rief sie einen kleinen Jungen an. »Sag Dschemail, daß der Amerikaner zu Elijas Höhle mitgekommen ist.« Sie warf dem Kind eine Münze zu. Cullinane wollte ihr das Geld wiedergeben. »Sind Sie verrückt?« fragte sie und griff nach einer neuen Flasche Bier.
    Es wurde eine Fahrt, an die Cullinane noch oft denken sollte - eine Reise ins Herz des Landes Israel. Gleich den meisten amerikanischen Besuchern hatte er bisher hauptsächlich mit den gebildeten Juden der politischen und kulturellen Elite verkehrt, für die Vered Bar-El und Eliav typisch waren. Aber war nicht

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