Die Quelle
wurde Cullinane erst klar, als Schulamith ihn zur Höhle selbst führte, in eine tiefe, ausgekalkte Kaverne, die mehr nach einem unterirdischen Zimmer aussah als nach einer Höhle. Die größtmögliche Zahl von Menschen füllte sie dicht an dicht - es mochten fünfhundert sein, die da in der dunstigen Luft schauderhaft transpirierten, im Versteck des Propheten tausend Kerzen entzündeten und die Köpfe neigten, um sich von den zahlreichen Rabbinern und heiligen Männern segnen zu lassen, die keine Luft atmeten, sondern ein sonderbares Gemisch aus Ozon, Frömmigkeit und religiöser Raserei. Cullinane hatte immer geglaubt, nur die Katholiken legten Wert auf priesterlichen Segen. Aber dort kniete nun Schulamith vor einem der purpurgewandeten Rabbiner nieder und küßte seine Hand, die er ihr dann auf den Kopf legte, um ihr Elias Segen zu erteilen. Unterdessen fanden sich in einer anderen Ecke zehn Männer zusammen und hörten einem elften zu, der einen feierlichen Gebetsgottesdienst leitete, schwitzend, fuchtelnd, von den häufigen Schlachtrufen einiger am Eingang stehender Frauen übertönt.
»Was ist unseren teuren Sefardim geschehen?« brüllte aus einer dritten Ecke ein Mann, während in der Mitte des Raumes einige Jüdinnen aus Marokko sangen und Säulentrommeln schlugen, ganz ähnlich jenen, die viertausend Jahre früher in Makor in Gebrauch gewesen waren. Die Musik war wild, mitreißend; vier kleine Mädchen tanzten wunderschön dazu, warfen die Arme empor und verzauberten die Männer, auch den Professor Cullinane, wie jüdische Mädchen es seit unzähligen Generationen getan hatten.
»Wo sind die großen Sefardim geblieben?« jammerte der Mann in der Ecke. Die Frauen schrien, Pilger zündeten in der dunklen Höhle ihre Kerzen an.
Beim Abendessen saß ein sehr ernüchterter Cullinane schweigend da. »Er ist in die Prozession zu Elijas Höhle hineingeraten«, erklärte Tabari.
»Wie hat er denn das angestellt?« fragte Eliav so, als sei der Ire nicht anwesend.
»Er hat die Sefardim-Synagoge in Akko besucht.« Der Araber lachte.
»Wir werden mit dieser elenden Aschkenasim- und Sefardim-Geschichte sehr bald aufräumen«, betonte Eliav eigensinnig. »Dazu ist es nur gekommen, weil die Juden von Vespasian aus ihrer Heimat vertrieben und über die ganze Welt zerstreut wurden. Jetzt, da wir wieder vereint sind, werden wir auch bald wieder einig sein.« Aufblickend sah Cullinane zu seinem Staunen, daß der Aschkenasi im Ernst und im guten Glauben sprach.
Im Frühling des Jahres 67 n. Chr. als die drei Legionen unter Vespasian, Titus und Trajan auf Makor marschierten, war Jigal dreiundfünfzig Jahre alt, immer noch einfacher Arbeiter an der Ölpresse und immer noch ein Mann von nur geringem Ansehen. Seine drei Söhne hatten sich verheiratet, und es war Jigals größte Freude, mit seinen elf Enkelkindern zu spielen. Am liebsten saß er dabei auf den Stufen des Venustempels, während die Kleinen auf dem Forum hin- und herrannten.
Seine große Tat vor mehr als fünfundzwanzig Jahren - die Bewahrung Judaeas vor den Statuen des Caligula - hatte Jigal keine bleibenden Ehren eingebracht; seine Nachbarn hielten ihn für einen ehrlichen und einfältigen, aber weder in geschäftlichen Dingen geschickten noch zu irgendwelchen öffentlichen Ämtern tauglichen Mann. Er war geachtet in der Synagoge und betete regelmäßig, hatte jedoch keinerlei Ehrgeiz hinsichtlich seines Ranges in der Gemeinde. Nun, da er älter geworden, ging er ein wenig gebückt, und sein schwächlicher Körper war nicht mehr mager wie früher, sondern dürr, sein Haar dünn und grau geworden, und seine glattgeschorenen Wangen waren eingefallen. In seinen graugrünen Augen lag oft der Schimmer eines Lächelns, denn Jigal lebte glücklich mit seinem Weib Beruria und sah neidlos zu, wenn andere, erfolgreichere sich immer wieder zu wichtigen Besprechungen nach Jerusalem oder Caesarea begaben. Durch merkwürdige Umstände war der Bauer Naaman, Jigals einstiger Gefährte, auf Simeon als Haupt der Gemeinde gefolgt, und hätte jemand ein Dutzend Einwohner von Makor gefragt, wer vor einem Vierteljahrhundert der Held des Widerstandes gegen die Römer gewesen sei, so hätten alle geantwortet: »Rab Naaman. Er ist nach Ptolemais gegangen und hat den Feldherrn Petronius gemahnt, keine steinernen Götzen nach Judaea zu bringen.« Daß man sich Naamans erinnerte, war verständlich. Denn nachdem Jigal von dem ihn tief erschütternden Erlebnis zurückgekehrt war, hatte er
Weitere Kostenlose Bücher