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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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es vergessen und sein Leben als Landarbeiter wieder aufnehmen können; Naaman dagegen war angesichts des Wunders, das der HErr vor seinen Augen vollbracht hatte, völlig verwandelt heimgekehrt. Ohne auch nur einen Tag zu zaudern, sogar ohne sich mit seiner Frau zu beraten, hatte er, damals achtunddreißig Jahre alt, seinen bäuerlichen Beruf aufgegeben und sich dem vorsichtigen alten Simeon anvertraut. »Mache mich zu einem Schriftgelehrten, auf daß ich die Wege des HErrn zu begreifen vermag«, waren seine Worte gewesen. Viele Jahre lang hatte der ungebildete Landarbeiter die heiligen Bücher auswendig gelernt, sich in Gesetz und Propheten vertieft und war so nach und nach ein Gelehrter und Weiser geworden, wahrhaft berufen zu religiöser Führung der Gemeinde. Er stand nun in seinem fünfundsechzigsten Jahr, ein ehrwürdiger Greis mit weißem Bart, gedämpfter Stimme und klaren blauen Augen. In ganz Galilaea war er seines großen Wissens wegen geachtet, und viele kamen aus fernen Dörfern, um ihm ihre Sorgen vorzutragen. Die Juden nannten ihn »Rab«: Meister.
    Mit Jigal verband ihn noch immer so etwas wie Freundschaft. Naaman schätzte ihn als einen der zuverlässigen Juden in Makor, aber selbst ihm wäre es niemals eingefallen, Jigal mit irgendeinem Amt zu betrauen, denn während Naaman sich zu einem neuen Menschen mit neuer Verantwortlichkeit entwickelt hatte, war Jigal geblieben, was er gewesen war und stets sein würde: ein ehrlicher Arbeiter, bescheiden und unauffällig. In der Tat hätte man Jigal als den typischen Juden Galilaeas bezeichnen können: fromm, ruhig, um seine Familie besorgt und voll festen Vertrauens in den Einen Gott.
    Im Frühjahr des Jahres 67 aber wurden selbst so stille Juden unruhig. Seit fast einem Jahr stand das jüdische Volk, entschlossen, die schmachvolle Behandlung nicht länger hinzunehmen, im Aufruhr gegen Rom. In Jerusalem hatten die Juden eine römische Herausforderung mit einem Aufstand beantwortet, die Garnison niedergemacht, und auch in einigen anderen Gebieten war es zu blutigen Kämpfen gekommen. Die Römer hatten Vergeltung geübt: Zwanzigtausend Juden wurden in Caesarea, fünfzigtausend in Alexandria, der Hauptstadt Ägyptens, getötet; selbst in der verhältnismäßig kleinen Stadt Ptolemais waren zweitausend erschlagen worden. Düsternis lagerte über dem Land. Durch die Täler Galilaeas streiften ungehindert bewaffnete Banden, anfangs Juden, dann Römer, dann Zeloten - jüdische Fanatiker -, schließlich nur noch Räuber. Allenthalben gab es Mord und Brand.
    Wegen seiner starken Mauer blieb Makor selbst in dieser gewalttätigen Zeit verschont, und Rab Naaman hoffte, daß sich für die kleine Stadt daran nichts ändern werde, bis die Truppen des Kaisers Nero kämen und die Ordnung im Land wiederherstellten: Makor brauchte Rom nur seine Ergebenheit zu bezeigen, die Römer würden ihre Beamten, soweit sie unvernünftig gewesen waren, absetzen, und dann mußten wieder Recht und Gesetz im Lande herrschen. Deshalb wartete Rab Naaman mit Ungeduld auf das Eintreffen der Legionen.
    Doch er hatte in seinen Plänen nicht mit seinem Freund Jigal gerechnet. Zu Naamans Überraschung sagte der Landarbeiter während einer Zusammenkunft: in der Synagoge: »Wir müssen der Macht Roms aufs neue widerstehen.« Und als Nörgler fragten, was er denn da für einen Unsinn rede, erklärte er: »Entweder schützen wir Gott, oder wir schützen Ihn nicht.«
    Rab Naaman vermittelte: »Wir dürfen uns Rom nicht widersetzen«, sagte er, »denn es ist seine Pflicht, den Aufstand in Jerusalem niederzuschlagen. Ich versichere euch, wenn das geschehen ist, haben wir wieder Frieden wie zuvor. Wir Juden werden unter von Rom eingesetzten Königen Glaubensfreiheit genießen.«
    »Es wird keine Freiheit geben«, entgegnete Jigal. »Sie werden uns Stück um Stück verschlingen.«
    »Was versteht der Mann schon von Politik!« sagte Naaman und strich seinen ehrwürdigen Bart. »Hat er mit Römern in Caesarea gesprochen? Weiß er, welches Unrecht die Unsrigen in Jerusalem begangen haben?«
    »Ich weiß nur, daß das Schicksal unseres Landes auf des Messers Schneide steht«, sagte der starrköpfige kleine Landarbeiter. »Ich weiß, daß wir alle als Sklaven verschleppt werden, wenn wir jetzt keinen Widerstand leisten. Wir müssen uns Rom widersetzen.«
    Während der Auseinandersetzungen, die Ende März mehrere Tage andauerten, enthielt sich Jigal jeder Anspielung auf die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren, denn er

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