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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Ascher diesen Patriarchen des Hains betrachtete, kam ihm der Gedanke, daß der Baum ein zutreffendes Bild des jüdischen Volkes abgab: eine alte Gemeinschaft, im Innern zum großen Teil weggefault, das noch Bestehende jedoch in der so lebenswichtigen Verbindung mit den Wurzeln - mit den Wurzeln des Gesetzes, das die Juden den Willen des Allmächtigen erkennen und gute Frucht tragen ließ. Es quälte Ascher, daß der Steinmetz das Gesetz nicht hatte beachten wollen, denn nur ein Unheil konnte die Folge sein.
    Von seinen Überlegungen lenkte ihn ein grellbunter Bienenfresser ab, der zwischen den Bäumen dahinjagte. Und über den silbern-graugrünen Baumkronen sah er einen Storch segeln, der sich von den aufsteigenden Luftströmungen tragen ließ, als sei er auf dem Weg hinauf zum HErrn im Himmel. Noch stand der Rabbi da, nachsinnend über dies Geheimnis, da wurde er sich eines Geräusches zu seinen Füßen bewußt; er senkte den Blick und gewahrte einen Wiedehopf, der auf der Suche nach Würmern im Boden raschelte. Er beobachtete, wie der fleißig Grabende sich einem Ameisenhaufen näherte. Der Grützenkoch kniete nieder, um den winzigen Geschöpfen zuzuschauen, und sagte sich: Ob der Mensch den fliegenden Storch anblickt oder die kleinen Ameisen - was er sieht, ist Gott. Und als er so nahe der jetzt leeren Ölpresse kniete - die Oliven waren noch nicht reif -, da ließ ihn seine Gottesnähe eine Erscheinung erleben: Über der Lichtung an der Presse sah er hoch in der Luft eine Thorarolle schweben, und um die Rolle zog sich, gleichfalls wie in der Luft hängend, ein im Sonnenlicht glänzendes goldenes Gitter. Außerhalb des Gitters aber drängten sich Hunderte von Juden, junge und alte, Männer und Frauen; sie streckten die Hände aus, um die Thora zu umfassen, vielleicht auch, um ihr Schaden zu tun. Doch das gleißende Gitter hinderte sie an beidem. Und während er dies noch erschaute, kniete eine Frau nieder - es konnte nur die Kaiserin Helena aus Konstantinopel sein, die er eben erst gesehen hatte - und ließ eine Kirche aus dem Erdreich erstehen, und über ihrem Haupte strahlte ein Licht, das den Hain überflutete. Die Frau verschwand und nach ihr auch die Kirche. Die Thora aber blieb, noch immer behütet von dem goldenen Gitter. Mit blendender Helligkeit schwebten beide, traumhaft und doch wirklich, dort oben. Tief prägte sich ihr Bild dem Geist des Rabbi Ascher ha-Garsi ein. Dann verschwand langsam auch die Thora, und der Grützenmacher war wieder allein. Um die Erscheinung zu deuten, bedurfte Ascher keiner Weisheit. Er setzte sich auf die Steine der Ölpresse und blickte sinnend auf die knorrigen Bäume, von jener Einsicht übermannt, die einem Menschen nur ein- oder zweimal im Leben zuteil wird und ihn künftiges Geschehen voraussehen läßt. Da war zunächst der strahlende Glanz um die Kaiserin Helena - der Glanz, das war die Macht des Reiches von Byzanz, kraft derer die Kaiserin aus dem Boden des Heiligen Landes eine neue Kirche hatte emporsteigen lassen: Eine neue, eine fremde Macht, verkörpert in Kaiserin Helena und ihrem Sohn, war heraufgekommen. Rabbi Ascher wußte, daß sie nie wieder weichen würde. Die Stellung der Juden zu dieser neuen Macht, zu diesem neuen Glauben, würde wohl für einige Jahrhunderte unbestimmt bleiben, vielleicht auch für immer, aber jedenfalls war diese Macht da, und sie zu mißachten wäre Wahnsinn. Wenn die in Makor kniende Kaiserin Helena sagte, daß dort eine Basilika entstehen solle, so war Rabbi Ascher bereit zu glauben, daß sich eine erheben werde, denn in seiner Vision hatte die Kaiserin weder eine kupferne noch eine bronzene Krone getragen, sondern eine Krone aus lauterem Gold. Und er wußte, daß Gold die Herrschergewalt bedeutete.
    Doch die beharrlichere der beiden Visionen war die vom goldenen Gitter beschützte Thora gewesen. In dem, was er da erschaut hatte, erkannte der Rabbi einen ihm selbst erteilten Befehl. Er sann darüber nach, was er tun müsse, und Geschehnisse kamen ihm ins Gedächtnis, die ganz in der Nähe stattgefunden hatten, als vor zweieinhalb Jahrhunderten Vespasian die Stadt Makor vernichtet, die Mauern zerstört und alle jüdischen Einwohner getötet oder versklavt hatte. In jener furchtbaren Zeit war der größte Jude, den Makor je hervorgebracht hatte, durch den Brunnenstollen geflohen und hatte sich bemüht, die Juden zu sammeln, nachdem der Verräter Josephus den Römern bei der Zerstörung Jerusalems geholfen hatte. Rab Naaman von Makor

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